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Exiljournalisten über die Wende: „Jede Mauer sollte abgebaut werden“

Die Sehnsucht nach der Freiheit: Vier Exiljournalisten schreiben über Parallelen zwischen Deutschland und ihren Heimatländern.

#jetztschreibenwir ist das Exiljournalisten-Projekt des Tagesspiegel. Unsere Autorinnen und Autoren sind zu jung, um den Mauerfall selbst miterlebt zu haben, auch kamen sie erst später nach Deutschland. Trotzdem fühlen sie sich zugehörig. Hier schreiben sie, was die Wende für sie bedeutet – und für ihre Herkunftsländer.

Rama Aldarwish (35) ist seit Dezember 2018 Volontärin der Medienanstalt Berlin-Brandenburg bei ALEX Berlin. Sie hat ihr Diplom zur Betriebswirtin in Damaskus gemacht. 2010 ließ sie sich von Al-Jazeera zur Journalistin umschulen und war danach mehrere Jahre in dem Beruf in Syrien tätig.

Das syrische Volk muss das Jubiläum des Staatsstreichs feiern

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten“: Viele Deutsche erinnern sich an diese Aussage Helmut Kohls.  Aber wie ist es, wenn man eine ganz andere Vergangenheit hat als die meisten Menschen in diesem Land, eine Vergangenheit, in der man Krieg erlebte? Wie kann man die Vergangenheit und Gegenwart seines Zufluchtsorts kennen lernen? Und welche Zukunft wird man gestalten? 

Als die Grenzen der DDR geöffnet wurden, war ich ein sechsjähriges Mädchen in Damaskus. Im November feierten die Deutschen den Mauerfall, währenddessen feierte die alleinherrschende Partei in Syrien, Al Baath, ihre so genannte „Korrekturbewegung“, den Staatsstreich von Hafes Al-Assad im Jahre 1970. Wir als Volk müssen mitfeiern und sollen den 16. November mit Freude als nationalen Feiertag akzeptieren.

Am 19. Januar 1989 sagte Erich Honecker: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden“. Solche Argumente bekamen wir auch von den politischen Institutionen der Al Baath-Partei zu hören, wenn jemand forderte, den Ausnahmezustand aufzuheben. Dieser Ausnahmezustand in Syrien bedeutet, dass wir nicht gegen die Machthabenden demonstrieren dürfen. Wir können keine politische Partei bzw. Verein oder Forum gründen.

Eine große Mauer zwischen uns und unseren verwundeten Städten

Seit 50 Jahren hat sich diese Partei nicht verändert, sondern sie hat das gesellschaftliche Gefüge zerstört. Sie hat keine Fortschritte in der Infrastruktur und Wirtschaft vorangetrieben, sondern unser Land zu ihrem Vorteil ausgenutzt.

Als die syrische Revolution 2011 begann, versprach das Assad-Regime den Ausnahmezustand aufzuheben. Dann wurden die Protestierenden von den Soldaten mit Panzern und Waffen angegriffen. Das Massaker wirkte als Abschreckung gegen die friedliche Aufstandsbewegung. Syrien blutet, und es wurde eine große Mauer zwischen uns und unseren verwundeten Städten aufgebaut. 

Ich frage mich: Kann es sein, dass ich Damaskus niemals wiedersehen werde? Diese Frage lässt mir keine Ruhe. Die Leute stellen eine ganz andere Frage: Glaubst Du an eine politische Änderung in Syrien, und falls das passiert, würdest du nach Syrien zurückkehren? 

Diese beiden Fragen sind für mich sehr schwierig zu beantworten. Mir ist klar geworden: Es wird auf absehbare Zeit keine politische Änderung zur Demokratie hin in Syrien geben. Deswegen wird Deutschland meine zweite Heimat sein. Dieses Land wird tiefgreifenden Einfluss auf meine Kultur, Sprache, Bewusstsein und Gedächtnis ausüben. 

Wie stellt man sich die Zukunft vor?

Dank der friedlichen Revolution 1989 haben die Menschen in Ostdeutschland die Freiheit und die Demokratie zurückgewonnen; andererseits haben viele Leute ihre Arbeitsplätze verloren, manche sind ärmer geworden und manche mussten ihre Heimatstädte verlassen. Dafür brauchen sie eine Entschädigung. Alle, die wir in Deutschland leben, müssen an den Herausforderungen arbeiten, mit denen dieses Land konfrontiert wird. Die Wende passiert nicht nur einmal, jede Mauer sollte abgebaut werden.

Davon träume ich auch für Syrien. Der Krieg hat so viel weggerissen, außer dem weiter bestehenden Wunsch nach einer friedlichen Revolution in Syrien. Die Ziele der syrischen Revolution werden nicht für ewig unerfüllt bleiben.  Es gibt noch so viele, die ihr Leben für eine syrische Revolution geben würden. Das oberste Ziel ist, dass das Land nicht mehr von der Al-Baath-Partei diktatorisch regiert wird. Wenn die Revolution dieses Ziel erreicht hat, wird sie Gerichtsverfahren gegen die Kriegsverbrecher und eine Entschädigung für die Opfer in Syrien mit sich bringen. 

Mit der Wende kam der Extremismus

Isa Can Artar (26).
Isa Can Artar (26).

© privat

Isa Can Artar (26) stammt aus der Türkei und lebt seit drei Jahren in Berlin. Er studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der FU Berlin.

In meinen ersten Monaten in Deutschland hörte ich einen Witz aus den 90er Jahren: Was ist der Unterschied zwischen einem Türken und einem Sachsen? Der Türke spricht Deutsch und hat Arbeit. Ich frage mich, was mir dieser Witz vermitteln sollte. Sollen Türken darauf stolz sein, dass sie besser als Sachsen sind? Oder sollen Sachsen mehr arbeiten und Hochdeutsch lernen, damit sie zumindest wie Migranten behandelt werden können? Sachsen waren mit diesem Witz bestimmt nicht glücklich.

Wenn ich Empfehlungen von Westdeutschen über Ostdeutschland bekomme, lauten sie meistens: „Geh nicht dorthin.“ Wir verbinden mit den östlichen Bundesländern nicht eine Geschichte von Befreiung und Einheit, sondern rechtsextremistische Angriffe und Neonazis. Auch diejenigen meiner Freunde und Bekannten, die noch nie im Osten waren, die nicht in Deutschland aufgewachsen oder so wie ich erst vor wenigen Jahren nach Deutschland gekommen sind, empfinden das so. Ihre Vorstellungen über den Osten haben sich zu Vorurteilen entwickelt.

Es stimmt, nach der Wende hat der Rechtsextremismus sein Gesicht im Osten stark gezeigt. Rechtsextremistische Ideen können in einer Gesellschaft, in der viele mit Armut und Arbeitslosigkeit kämpfen, leichter wachsen. Und in solchen Situationen suchen viele einen Sündenbock – in diesem Fall sind das die Flüchtlinge. Aber man findet in allen Ländern Sündenböcke!

Als die Kurden verschwanden

Anfang der 90er Jahre waren Kurdinnen und Kurden die Sündenböcke in der Türkei. In den kurdischen Gebieten litten die Menschen unter den militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK. Viele mussten ihre Dörfer verlassen und sind in den Westen der Türkei gewandert, wo es Arbeit, Wirtschaft und Infrastruktur gab.

Bis dahin waren die Grauen Wölfe, die türkischen Rechtsextremisten, eher eine nationalistische Bewegung, die den Kommunismus bekämpfte. Nach dem Ende der Sowjetunion, als die Kurden in der türkischen Gesellschaft stärker sichtbar wurden, wandten sich die Grauen Wölfe und deren Partei MHP gegen die Kurden. Kurden konnten weder ihre Sprache sprechen, noch sich selbst als Kurden bezeichnen. Bis heute können sie das nur mit Einschränkungen tun. Die MHP ist übrigens Koalitionspartner der Regierungspartei AKP.

Der Traum von Respekt

Es gibt also Vorurteile gegenüber Menschen aus dem Osten Deutschlands, ebenso wie es Vorurteile gegenüber Menschen aus dem Mittleren Osten gibt. Wir haben etwas gemeinsam: Menschen neigen dazu, andere Gruppen pauschal zu verurteilen. Pauschale Urteile sind aber immer falsch. Klar, Rechtsextremisten organisieren sich häufig im Osten. Wir wissen aber, dass es auch im Osten Menschen gibt, die demokratische Werte hochhalten, die progressive Bewegungen organisieren und sie verbreiten wollen.

Ich träume davon, dass sie irgendwann erfolgreich sein werden, im Osten Deutschlands und in der ganzen Welt. Deswegen ist es so wichtig, dass das Einkommensgefälle zwischen dem Osten und Westen abgeschafft wird – dann wird auch der Einfluss der Rechtspopulisten zurückgehen. Die Menschen im Osten dürfen nicht im Regen stehen gelassen werden. Wir brauchen eine interkulturelle Gesellschaft, in der die Menschen sich nicht nur gegenseitig respektieren, sondern auch gut miteinander umgehen und leben. Davon träume ich! „Wir sind das Volk“ war ein Protestmotto. Das soll aber nicht heißen, dass die anderen nicht zum Volk gehören.

"Ich hatte von der Mauer gehört"

Nyima Jadama (26).
Nyima Jadama (26).

© privat

Nyima Jadama (26) ist Print- und Radiojournalistin aus Gambia. Sie ist seit 2018 Volontärin der Medienanstalt Berlin-Brandenburg bei ALEX Berlin

Vor vier Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich jemals eine Verbindung zur deutschen Geschichte haben könnte – und noch vor einem Jahr hatte ich keine wirkliche Vorstellung von der Geschichte der Mauer. Das änderte sich erst, als ich das Glück hatte, bei einem Studentenausflug mit der Kiron University die East Side Gallery in Friedrichshain besichtigen zu dürfen.

Es war ein trockener, windiger Tag, und um die East Side Gallery herum herrschte viel Betrieb, als wir mit den vielen anderen Touristen um die Reste der Mauer herumgingen, fotografierten und unserem Stadtführer zuhörten. Er erzählte uns von dem einzigartigen Ereignis des Mauerfalls und dem historischen Hintergrund, und ich wurde von meinen Gefühlen überwältigt. Meine Gedanken drehten sich um den Kolonialismus, um die vielen Filme und Geschichten, die ich über die Sklaverei in Afrika gesehen und gehört habe.

Ich habe drei Jahre lang im Dreiländereck zwischen der Schweiz, Frankreich und Deutschland gelebt. Dort habe ich zwar von der Mauer gehört, aber ich konnte keine Vorstellung davon gewinnen, wie es für die Deutschen war, eingesperrt und getrennt von ihren Liebsten zu leben, wie sie den Mauerfall und die Einheit Deutschlands erlebt haben. Erst vor einem Jahr bin ich nach Berlin gezogen. Meine Wohnung ist nur einige Gehminuten vom Mauerpark entfernt, von der Gedenkstätte Berliner Mauer und der berühmten Bernauer Straße. Dort gehe ich oft spazieren und vertiefe mich in die Bilder und Geschichten, die dort ausgestellt sind.

Nicht nur ein Fest für Deutsche

Kurz nach meinem Umzug nach Berlin war ich bei einer Weihnachtsfeier in Brandenburg eingeladen. Der Großvater meines WG-Mitbewohners erzählte mir von seinen Erfahrungen während der Zeit, als die Mauer stand und fiel. Durch meine Gespräche mit ihm erfuhr ich aus erster Hand, wie sehr die Berliner und DDR-Bürger in dieser Zeit gelitten haben. Das hat mir wehgetan. Denn es erinnerte mich an die 22 Jahre Diktatur in meinem Land. Ich hatte immer gedacht, Deutschland sei ein hoch entwickeltes europäisches Land – mir war nicht klar, dass es auch hier so furchtbare Zeiten gegeben hat.

Für viele Berliner war der Tag der Maueröffnung der schönste Tag ihres Lebens: der Tag, an dem sie nach einer friedlichen Revolution ihre Stadt und ihre Freiheit zurückgewannen. Das erinnert mich an den Tag vor zwei Jahren, als mein Land das Ende der Diktatur feierte – wie gerne wäre ich dort gewesen, um in den Straßen von Banjul mit den anderen Gambiern zu feiern!

Die kosmopolitische Einheit fehlt noch

Der Fall der Mauer am 9. November 1989 ist aus meiner Sicht nicht nur ein Fest für Deutsche, sondern auch für Migranten und Flüchtlinge. Es gibt im Englischen die Redewendung „He who feels it knows it“ (Wer es fühlt, weiß es) – wenn Menschen so tiefgreifende Erfahrungen gemacht haben wie die Deutschen mit der Teilung und Wiedervereinigung, dann kann das die Toleranz und das multikulturelle Verständnis fördern. Aber sind wir ein Teil dieser Geschichte, wir, die Migranten und Flüchtlinge?

Auch drei Jahrzehnte danach wird die Geschichte von Mauerfall und Wiedervereinigung vor allem als eine weiße deutsche Geschichte gesehen. Meine Hoffnung, mein Traum ist, dass der Gedanke der Einheit weiter gefasst wird und alle einschließt. Wir sind vielleicht kein Teil Deutschlands von Anfang an, aber ich träume davon, dass Deutschland ein kosmopolitischeres Land werden wird, in dem alle Flüchtlinge und Migranten Bewegungsfreiheit genießen und Aufenthaltserlaubnisse erhalten. - Aus dem Englischen übersetzt von Dorothee Nolte.

Der Staub der Erinnerungen

Hareth Almukdad (32).
Hareth Almukdad (32).

© privat

Hareth Almukdad (32) lebt seit vier Jahren in Berlin. Er studierte in Damaskus Journalismus und arbeitet bei der Zeitschrift „KulturTür“ des DRK Berlin-Südwest.

Seit fast zwei Jahren lebe ich im Osten Berlins und arbeite im Westteil der Stadt. Jeweils zwei Stunden täglich verbringe ich damit, in öffentlichen Verkehrsmitteln hin- und herzufahren. Am liebsten sitze ich am Fenster und betrachte die Straßen, Gebäude und Bahnhöfe, die Geschichten aus der Vergangenheit erzählen und immer noch Zeugnis von der früheren Teilung der Stadt ablegen, wie zum Beispiel der Bahnhof Friedrichstraße.

Mir fällt dann auf, wie mühelos ich mich fortbewege – und ich versuche mir vorzustellen, wie die Menschen zwischen 1961 und 1989 diese schrecklichen Barrieren und Kontrollen erlebt haben. Schnellen Schrittes trage ich meinen Rucksack die Rolltreppe hinunter zum Bahnsteig der S1, ohne Angst und ohne die Erlaubnis von irgendjemandem, meinen Weg fortzusetzen.

Manchmal kommen mir in diesem Bahnhof die Tränen, einfach so, wie Zehntausenden von Menschen, die sich in den Jahren der Teilung am Tränenpalast von ihren Liebsten und Freunden verabschieden mussten. Vielleicht kommen meine Tränen aber auch aus einem anderen Grund: durch den Staub der Erinnerungen, die mich als Syrer an diesem Ort heimsuchen.

Die Überbleibsel in den Köpfen

Wie früher in Deutschland gab es auch in Syrien eine Belagerung. Im östlichen Teil von Aleppo und im östlichen Teil von Damaskus lebten Hunderttausende Zivilisten im Widerstand gegen Assads Herrschaft. Nach fünf Jahren, im März 2018, endete die Belagerung durch Assads Streitkräfte und seine russischen Verbündeten mit der Vertreibung der Bewohner von Ost-Ghouta nach Nord-Syrien.

Ein Freund von mir war dabei, als die Busse aus Ost-Ghouta eintrafen. Einem Paar, das mit seinem fünfjährigen Kind ausstieg, gab er Essen und Wasser und dem Kind eine Banane. Das Kind, so erzählte er mir, habe die Banane gegessen, ohne die Schale zu entfernen. Es hatte noch nie vorher eine Banane gesehen, geschweige denn gegessen. Es kannte nur die Bomben und Raketen, die täglich vom Himmel fielen.

Der in den Bahnhof einfahrende Zug vertreibt den Staub der Erinnerung und trocknet die Tränen in meinen Augen. Ich setze meinen Weg fort, lasse meinen Blick über die mitfahrenden Passagiere schweifen und verteile Lächeln. Manche lächeln zurück, andere sehen mich stirnrunzelnd an. Und ich denke bei mir: „Mag sein, dass die Berliner Mauer vor 30 Jahren gefallen ist, aber in vielen Köpfen gibt es noch so manche Überbleibsel davon.“

Geflüchtete und Deutsche verbinden

Beton zu spalten und Eisen zu entfernen scheint mir vergleichsweise einfach – einfacher jedenfalls als die Eiswände der Angst wieder zum Schmelzen zu bringen, die sich in den Köpfen der Menschen gebildet haben, die die Teilung damals erlebten. Ich jedenfalls habe oft das Gefühl, dass es noch immer eine unsichtbare Mauer gibt.

Die meisten Geflüchteten leben heute wie ich im Ostteil der Stadt, entweder in Wohnheimen für Geflüchtete oder in Privatwohnungen. Nur selten sind sie in den Sozialraum integriert; es gibt im Osten Berlins weniger Organisationen oder Projekte, die die Kommunikation zwischen Geflüchteten und ihren deutschen Nachbarn unterstützen, als im Westteil der Stadt.

Dort gibt es Dutzende von Initiativen und Projektmaßnahmen, die Geflüchtete und Deutsche verbinden. Dies ist so wichtig, denn Vorurteile können am besten durch direkte Kommunikation und gegenseitiges Kennenlernen beseitigt werden. 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sehen viele Menschen immer noch eine imaginäre Mauer, die sie von früheren Generationen geerbt haben. Ich hoffe und träume davon, dass sie sie nicht an ihre Kinder weitergeben werden, denn diese Welt hat genug Spaltungen erlitten.

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