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Exklusives Berlin: Immer mehr scheitern an der Club-Tür

Sei in, sei drin, sei dabei – so stellt sich Berlin gerne dar. Tatsächlich aber werden neue Grenzen gezogen: ob in Clubs wie dem Berghain oder in der Arztpraxis.

Berliner wollen neuerdings alle dasselbe. Wo sonst kommen die Schlangen her? Sie bilden sich nicht mehr nur vor den Clubs, sondern auch bei Wohnungsbesichtigungen und vor den Arztpraxen mit Aufnahmestopp. Da sind die Museumsschlangen und Kindergartenwartelisten. In Berlin kitzelt plötzlich dieselbe Frage wie in Frankfurt, London oder New York: Drin oder nicht?

Dann steht jeder Einzelne einsam vor seinem Richter, der eben noch sein Anlageberater, Türsteher, Kitaleiter, Praxisgehilfe war. Weiß man, was in deren Buch geschrieben steht? Die Prüfung der Person ist persönlich wie bei der Bank, geheim wie im Soho-House und selbstverständlich ungerecht. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Abgelehnt wird man, weil man ist, wer man ist. Oder weil man nach jemandem aussieht: nach einem Mietnomaden, einer Spaßbremse oder einem Kassenpatienten. Prompt zeigt sich, auf wie viele unterschiedliche Arten man nackt sein kann: Es ist möglich, in einer Straße zu wohnen, deren Postleitzahl auf schlechte Zahlungsmoral der Nachbarn schließen lässt. Dann zahlt man höhere Kreditzinsen. Auf Listen für einen Kindergartenplatz kann sich das Warteritual jahrelang hinziehen. Nicht Sie wählen uns aus, wir wählen Sie aus! Das ist in Berlin, der Stadt, in der jeder lange alles sein durfte, wenn er es nur lange genug behauptete, eine neue Geste.

Wie konnte es dazu kommen? Seit wann bestimmen die anderen, wer man ist? Kann man jetzt etwa ernsthaft VIP sein? Wann sind diese albernen Absperrkordeln aufgetaucht? Entscheiden jetzt Gremien über gesellschaftliche Teilhabe?

Wer in den Neunzigern das Flüstern in der Stadt hören konnte, der war „drin“. In der Montags-, Dienstags-, Mittwochsbar, bei den Partys in der Raumerweiterungshalle hinter dem Nordbahnhof, im frühen Cookies und in diversen namenlosen Kellern, im Kunst und Technik, in Rafael Horzons Galerie, im ersten Stock des Hauses Schwarzenberg, wo häufig jemand in einem riesigen Topf Suppe rührte. Oder bei den vielen, plötzlich bespielten Partyorten, die es gab, weil wieder jemand „Partymacher“ als seine wahre Berufung erkannt hatte.

Aber auch mit Gewerbeschein und über Tage misslangen die Versuche von Exklusivität auf unterhaltsame, nur in Berlin mögliche Weise: Der stärkste Eindruck vom Presseball im ICC im Januar 2000 war nicht etwa, wie die Damen des Berliner Buletten-Adels in Abendrobe mit ihren Kleidern in den Rolltreppen hängen blieben, sondern wie sie, nachdem sie sich auf die Tombola gestürzt hatten, in Abendrobe und mit sperrigen Küchengeräten bewaffnet, die sie gerade gewonnen hatten, von den Drehtüren des ICC in die Nacht geschleudert wurden.

Bei den ersten Gehversuchen auf den hochflorigen Teppichen der neu eröffneten Luxushotels war lange nicht klar, ob man mit der neuen „Gesellschaft“ oder über sie lachte. Die Berliner, schien es, waren für Exklusivität nicht gemacht. Eine Hauptfigur war die lüsterne Shawne Borer-Fielding, die Frau des damaligen Botschafters der Schweiz, die sich vor dessen Dienstsitz auf einem Pferd ablichten ließ. Ihr Mann hatte dann selbst eine Affäre mit einer Parfumverkäuferin aus dem KaDeWe ... In dieser Zeit zwischen Mut und Übermut versuchte Isa Gräfin von Hardenberg etwas Zug in die Bande zu bringen.

Aus dieser Zeit stammt auch der Ruf nach einer „Gesellschaft“ in der Stadt. Die Stadt sei so grob, hieß es immer, ihr fehlten die feinen Unterschiede. Die Gesellschaft, die dann kam, lebte ihre Abgrenzungsbedürfnisse nicht mehr nur im Nachtleben aus. Und sie zeichnet sich natürlich dadurch aus, dass die anderen eben nicht dabei sind.

Seite 2: Wie eine Werbekampagne zur Erotisierung des Einlassrituals führte.

Im Jahr 2005 eröffnete der Gastronom Peter Glückstein den Nachtclub Goya im ehemaligen Metropol-Theater am Nollendorfplatz mit einem neuen, frechen Finanzierungskonzept: Seine späteren Gäste konnten schon vor Baubeginn Aktien zeichnen. Sie sollten in Zukunft für ihre eigene Dividende essen und trinken.

Es stellte sich heraus, dass das Finanzierungskonzept das einzig Interessante an diesem Laden war: Die Aktionäre sollten freien Eintritt haben, lebenslang, Die zweite, obere Empore im großen Saal sollte allein ihnen vorbehalten sein, quasi als architektonischer Spiegel der sozialen Differenz. Aber worin bestand das Vergnügen, auf der Empore zu stehen, statt überall herumstreifen zu können? Es war wie Speedy Boarding: Man bezahlt einen Aufpreis, um dann schneller und länger als alle anderen auf seine Beinfreiheit zu verzichten. Das sollte ein Vorteil sein?

„Da können sie auf die anderen herabschauen“, sagte Glückstein damals. In Ermangelung echter Ereignisse sprach man bei der Eröffnung wieder über die Murano-Leuchter. Aber noch nie hatte in Berlin ein gelungener Abend von Leuchtern abgehangen. 2006 ging der Club pleite. Zu viele hatten „Goya, lebenslang“ als Strafe durchschaut.

Aber wo kam dieses Bedürfnis nach Unterscheidung her, aus dem immer mehr Unternehmer Gewinn zu schlagen versuchten? Warum war es plötzlich attraktiv, zu einer Gruppe zu gehören, sich sogar – Gipfel der Langeweile – einfach einzukaufen?

Im Oktober 1999 startete AOL eine Werbekampagne , in der Boris Becker bundesweit zweideutig rief: „Ich bin drin“ und dem Internetanbieter damit 1,2 Millionen Neukunden bescherte. Vielleicht begann hier die merkwürdige Erotisierung des Einlassrituals.

Rote Teppiche zogen ein, die es vor Jahren auch vor Clubs nicht gab, rote Kordeln hingen pompös und wichtigtuerisch an ihren Ständern. Dann kam der Türsteher: Drin oder nicht?

Das Einlassritual ist zum Fetisch geworden. Und wenn der Einlass ein Fetisch ist, ist „die Schlange“ Tantra. Sie schlängelt sich nachts vor Clubs und am helllichten Tag vor den Museen. Sie dient der Verzögerung eines Lustmoments: „Ich bin drin.“ Im Innern kann er sich für einige noch multiplizieren beim Einlass in die VIP-Lounge. Viele Veranstaltungen versuchten jetzt, mit einem „Begrüßungscocktail“ den beglückenden Moment in die Länge zu ziehen. Vielleicht, damit die Gäste gut über den Adrenalinabfall des Post-Einlasses hinwegkommen würden, der möglicherweise schon der Höhepunkt des Abends gewesen war.

Hohle Geschäftskonzepte versprechen den meisten Gewinn – es gibt keinen Materialeinsatz, keine Lager- und Personalkosten. Die Luft, die man verkauft, ist nicht einmal heiß. Es gibt eigentlich auch kein Produkt. Anbieter sozialer Differenz haben sich etwa das Produkt „Leute schneller reinlassen“ ausgedacht. Das „Felix“ im Adlon führte eine „Fast Lane“ ein, bei der es für den doppelten Eintritt sofort reingeht, und mit den VIP-Tickets der Museen kann man die Schlangen umgehen. Barzahler fühlen sich beim Arzt wie Privatpatienten. Und eine Frühschule für Kleinkinder nennt sich „Fast Track Kids“.

Im Sommer nach der Pleite des Goya verbrachte ich im Auftrag dieser Zeitung eine Nacht in der Hotellobby des Ritz Carlton am Potsdamer Platz, weil Robbie Williams nach einem Konzert dort auftauchen sollte – oder auch nicht. Hunderte aufgetakelte Fans warteten auf ihn. Die Sesselgruppe, in der Robbie Williams mit seinen Leuten sitzen sollte, war mit Kordeln abgesperrt.

Diese roten Kordeln, die nun völlig unironisch im Stadtbild auftauchten und unter Fachleuten „Personenleitsysteme“ heißen, funktionierten tatsächlich: Sie leiteten die Gedanken und Handlungen der Leute, leiteten eine ungeheure Menge Geld in die Kasse der Hotelbar. Die Köpfe drehten sich zu der leeren Sesselgruppe wie Kompassnadeln zum Nordpol. Viele, die meisten Frauen, waren extra angereist. Weil Robbie nicht kam, hatten sie Zeit zu erzählen, wie sie ihr Geld als Sachbearbeiterinnen oder Sekretärinnen verdienten. Jetzt bluteten sie für die teuren Cocktails, weil sie sich Zeit erkaufen mussten. Natürlich blieb der umzäunte Platz leer.

Es war klar, wie dieses Marketingkonzept funktionierte. „Sechzehn leere Sessel, die für hundert volle garantieren.“ Die Frage war: Wäre so eine schafige Folgsamkeit des Publikums vor Jahren in Berlin denkbar gewesen? Es wurde klar, was hier zu sehen war: Nichts. Und damit nichts als die Wahrheit. Der VIP-Bereich war leer. Da war niemand von Bedeutung. Hinter tausend Kordeln keine Welt.

Der Verdacht verfestigte sich, dass der Akt der Unterscheidung den Inhalt komplett ersetzt hatte. Die soziale Differenzierung war zum Zweck der Unternehmung geworden, wie man es schon im Goya versucht hatte. Die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern ist die Dienstleistung, die im Soho-House heute funktioniert und eben den Reiz darstellt. Die Kitas, Clubs, Praxen und Museen sind bloß Mittel, diese Unterscheidung zu treffen und Teilhabe zu demonstrieren.

Sie werden jetzt sagen, das ist nicht neu. Das ist bloß Bourdieu. Neu aber ist, dass der Berliner für Mechanismen, über die er lange gelacht hat, anfällig geworden scheint.

Seite 3: Abgewiesen an der Kindergartentür

2010 besuchte ich den Tag der offenen Tür eines rasant begehrten Kindergartens, bei dem, so hieß es gleich, weitere Anmeldungen aussichtslos seien. Alle Eltern waren hier Konkurrenten. Es gab zwei Gruppen an diesem vollen Nachmittag: die mit einem roten Aufkleber auf der Brust und die ohne. Dann tauchten Leute mit den Spendensammelbüchsen auf. Wer spendete, bekam einen Aufkleber. Es ließ sich nicht sagen, wer zufriedener schien, die Empfänger des Geldes oder die des Zeichens. Schon für einen billigen Euro konnte man von einem Bittsteller zu einem Wohltäter der Kita werden. Ich fand das infam. Konnte man sich hier etwa einkaufen? Und wenn nicht, warum markierten sie die Spender? Spenden hätte sich jetzt wie Schleimen angefühlt.

Die große Qualität von Berlin war es über lange Zeit, den Wert von etwas zu erkennen, auch ohne dass es durch eine Mehrheit bestätigt war: der Wert von zugigen, aber günstigen Wohnungen etwa, für die man bedauert wurde, aber die man trotzdem lieben konnte. Da war der Wert schimmeliger Keller, in denen spätnachts der Sauerstoff knapp wurde, denn es gab unerhörte Musik. Einige erkannten früh den Nährwert von Müsli. Andere den von fetten Bässen. Übergestülpte Begriffe hat die Stadt einfach ignoriert.

Nicht, weil die Berliner schneller wären als andere, neue „Trends“ auszumachen. Sondern weil sie sich trauen, Dinge jenseits gängiger Hierarchien einfach selbst gut zu finden. Das ist keine Frage von Schnelligkeit, sondern von autarkem Denken.

Hierarchien ordnen übereinander, Berlin hat immer nebeneinander sortiert, Platz gab es genug: erst für die Wehrdienstverweigerer der Siebziger und Achtziger, die Hausbesetzer und Hausbesitzer, dann für die Müslis, die Bonner, die Schwaben. Die Generationen X, Golf und Praktikum passten auch locker noch rein. So wie die Techno-Pioniere, die urbanen Penner und die Digital Natives, die innerstädtischen Golfspieler und das literarische Fräuleinwunder. Alles hier, alles Berlin. Es war gar nicht nötig, dass einem jemand erklärte, wo oben und unten war.

Für alle, die nach Berlin zogen, ging es im Kern immer um Selbstermächtigung, das ist noch immer der Zauber der Stadt. Und ihre Brachen, Spiegel des gedanklichen Freiraums, sind so lange ein Potenzial, bis sie bebaut werden. Hape Kerkeling fuhr 1991 als Königin Beatrix am Schloss Bellevue vor. Rafael Horzon ironisierte mit seiner Club-Galerie in Mitte die Mechanismen des Kunstmarktes. War es in Berlin nicht längst Kultur, mit der Bedeutungslosigkeit von Klassenstrukturen zu spielen?

Teuer kann jeder. Das prickelt nicht, das kostet nur. Die Einzigen, die sich anmaßten, sagen zu dürfen, wer reindurfte und wer nicht in Berlin, standen jahrzehntelang an der Stadtgrenze, die ja zugleich eine Grenze der zwei Blöcke war, in denen sich die Welt gegenüberstand. Es schien schikanös, aber irgendwie auch logisch, dass es im Wechsel von der einen auf die andere Seite Kontrollen geben musste. Die DDR-Grenzer waren bekannt für Willkür, penible Sorgfalt und Verdächtigungen. Sie durchleuchteten Reisende, verlangten Dokumente, wiesen ab. Aber wer in Berlin, diesem exotischsten Club überhaupt, endlich „drin“ war, war drin. Auf innerstädtische Kontrolleure konnte verzichtet werden.

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