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Berlin: Fabian Lenz: Schlachtensee – die pure Verführung DIE STRECKE: PRAKTISCH

Sie waren beim Berlin-Marathon wieder nur als Zuschauer dabei? Sie haben sich vorgenommen, endlich ins Lauftraining einzusteigen? Dann folgen Sie einfach unseren Routen. Prominente Läufer – Profis und Hobbyathleten – verraten, wo joggen in Berlin am schönsten ist

ACHTUNG, FERTIG, LOS! LAUFEN MIT DEM TAGESSPIEGEL (3)

Zu den prägendsten Erlebnissen eines jungen Menschen gehören die Sportveranstaltungen der Schulzeit. Kein Mensch weiß später mehr, wer besonders gut war in Geschichte oder Biologie – aber die meisten können sich nach 20 Jahren immer noch erinnern, wer beim Sport triumphiert oder kläglich versagt hat und erst mit den Letzten ins Ziel stolperte. In meiner Schulzeit war es der „Provinzial-Lauf“, benannt nach einer Versicherung, der uns alles abverlangte. Man musste diesen Dauerlauf über ein paar Kilometer ja nicht gewinnen. Aber auf keinen Fall durfte man zu den Losern gehören, die erst Minuten nach dem Hauptfeld an der Schule eintrudelten oder kurz vorm Ziel schlapp machten.

Also trainierte ich ein bisschen vor den Toren der Stadt, wo meine Eltern ihr Haus hatten. Das half, nebenbei, beim Fußball auch mal die zweite Halbzeit durchzustehen. Als nicht ganz unproblematisch erwies sich die Wahl der richtigen Laufstrecke. Egal, in welche Richtung ich auch startete, ich musste nach kürzester Zeit ein Anwesen mit Wachhund passieren. Es waren mitunter ziemlich furchterregende Köter dort und alle hatten anscheinend etwas dagegen, dass ich im Laufschritt an ihnen vorbei wollte. Die Szenen, die sich dann abspielten, entsprachen in jeder Weise den hinlänglich bekannten Klischees. Ich musste – meistens rückwärts laufend – so lange vor der kläffenden Bestie hertraben, bis jener die Lust an unserem Spiel verging.

Rückwärts laufen muss ich heute nicht mehr. Für die Hunde am Schlachtensee, meiner Strecke, scheine ich keine Gefahr darzustellen. Diese gut erzogenen Stadtbewohner ignorieren mich jedenfalls. Die Fünf-Kilometer-Runde im Grunewald ist ohnehin ein unglaublich ordentliches Sportrevier von vorstädtischer Normalität. Nur einmal habe ich „echte“ Sportler angetroffen, eine Horde Nachwuchsfußballer, die von ihrem Trainer drei Mal um den See gejagt wurden.

Mir reicht eine Runde, die ich an guten Tagen in 35 Minuten absolviere. Die Läufergemeinde am Schlachtensee wirkt wie eine Schicksalsgemeinschaft, die nur das eine teilt, nämlich rotgesichtig um den See zu hecheln. Wenn man nicht zu sehr in Gedanken ist, kann es eine lohnenswerte Beschäftigung sein, sich hier mit Sozialstudien zu befassen. Schon durch den Gesichtsausdruck vermittelt der Läufer Kampfeswillen oder Leidensdruck. Ganz zu schweigen von den modischen Selbstverwirklichungen, die ebenfalls sehr vielsagend sein können. Fast alle laufen am Schlachtensee allein, vermutlich weil man heutzutage kaum noch einen gemeinsamen Termin mit irgendwem hinbekommt. Es fällt auf, dass auch häufiges Joggen keine wirklich gute Figur machen muss. Okay, Arme und Beine werden etwas strammer, aber die Wampe bleibt – die typische Berliner Szene-Figur eben. Eine echte Herausforderung bekam die Strecke in diesem Jahr durch einen neuen Biergarten. Man muss da durch, es gibt kein Drumherum. Manche drehen vorher ab und laufen wieder zurück. Aber eigentlich will ja jeder mindestens eine Runde um den See schaffen. Also mit entschlossenem Blick zwischen den Biertrinkern hindurch. Keinen Gedanken daran verschwenden, der eigenen Degeneration Vorschub zu leisten. Dass Im-Biergarten-Sitzer und Um-den- See-Läufer sich gegenseitig ein schlechtes Gefühl vermitteln, liegt auf der Hand. Und so ignoriert man sich dankenswerterweise.

Ganz anders ist das an der Liegewiese, die wie ein Tribüne steil nach oben verläuft, zumal es von hier fast nur den Weg mit den Läufern zu sehen gibt. Alles, was vorbei kommt, dient zur Unterhaltung der Liegewiesen-Menschen. Spöttische Kommentare ernten aber meist die sportiven Kampfläufer, was als ein gerechter Ausgleich für das Leiden der anderen gewertet werden darf. Die härteste aller Prüfungen erwartet allerdings diejenigen, die statt des Laufens mal versucht haben, beim ansässigen Bootsverleih ein Ruderboot zu mieten. Die Verleiherin, deren Make-up etwas von Kriegsbemalung hat, pflegt offensichtlich ihr Bademeister-Syndrom. Sie beschimpft und maßregelt ihre Kundschaft ohne ersichtlichen Grund in so unflätiger Weise, dass so mancher fassungslos darauf verzichtet, ein Boot zu mieten. Aber wer den Provinzial-Lauf überlebt hat, der schafft auch das hier.

Unsere Serie erscheint in loser Folge. Teil eins bestritt Joey Kelly am 30. September, Teil 2 Tita von Hardenberg am 7. Oktober.

Ein durch und durch praktisches Terrain: Entlang der Seenkette, die vom Ku’damm bis zum Wannsee reicht, finden sich allerlei Biergärten (z. B. Spinner-Brücke an der Spanischen Allee; Fischerhütte am Schlachtensee). Auch eine Praxis für Fußreflexzonenmassage am Bootsverleih Schlachtensee, Tel. 8031962) gibt es hier für die Laufmüden. Wirklich empfehlenswert ist es, die Unterführungen unter der Avus zum Kronprinzessinnenweg (Krone) und der westlichen Seite des Grunewalds bis zur Havel zu nutzen. Von der Runde um die Krumme Lanke (2,5 Kilometer) bis zum 30-Kilometer-Lauf bietet die Gegend für jeden Läufertyp die richtige Strecke. Doch Vorsicht ist geboten, hier und da lauern Stolperfallen wie Wurzeln und Äste.

Bewertung nach Schulnoten: Lärm, vor allem durch S-Bahn und Avus: 2-3; Läuferdichte, je nach Tageszeit: 1-3; Streckenvariationen: 1; Ausflügler/Radfahrer/Hunde: am Wochenende 4, werktags 2. Beste Laufzeit: bis mittags und bei schlechtem Wetter. Ingo Andert

Fabian Lenz

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