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Fahrradstadt Berlin: Mehr Pfeifen aufs Rad!

Der Kurier, der Playboy, der Hedonist und das Blumenkind: Berlin ist die Hauptstadt der Radfahrer - trotz allem. Bekenntnisse eines Pedaleurs, der auch im Spätherbst nicht absteigt.

Radfahrer, die bei Rot über eine Kreuzung fahren, sehen schrecklich unästhetisch aus. Dieses nervöse Hasten, diese Sekundengeilheit, die Zielversessenheit, das opportunistische Kopfwenden, ob denn die Polizei ... Nein, danke, zu diesem Regelverletzungsverein, diesem windigen Leichtmatrosenklub möchte ich nicht gehören. Ich bleibe stehen! Halten für Berlin! Grün! Los!

Würden die Menschen nicht immer auf den letzten Pfiff aus dem Haus eilen, bliebe der Welt manches Unglück erspart. Ich bin Radfahrer! Sage Nein zu Autos! Sage Ja zum Tretpedal, denn der wahre urbane Flaneur des 21. Jahrhunderts ist Radfahrer. Wer Berlin nur in seinem Vierrad-Kerker durchmisst, hat keinen Schimmer. Kann man die Stadt vom Auto aus riechen? Kann man das Leuchten des Herbstes genießen? Kann man während des Fahrens ein trudelndes Blatt fangen? Kann man Kontaktfäden spinnen? Selbstbestimmung ist ein Fremdwort für die Gaspedalisten – und jetzt kein Wort mehr über sie.

Aufs Rad! Vor zwanzig Jahren fuhr ich, wann immer es ging, freihändig durch die Stadt. Ich sei, erzählte ich einem Halt gebietenden Polizisten in der Kreuzberger Körtestraße, ostfriesischer Meister im Freihandradfahren, sei es gewohnt, steile Deiche ohne lenkende Hand zu erklimmen, deshalb müsse er sich keine Sorgen ..., er mache sich keine Sorgen, er verwarne mich jetzt! Ich tat Buße! Fuhr weiter, jahrein, jahraus, sommers wie winters. Einmal suchte ich an der Sonnenallee vor einem Platzregen Zuflucht unter dem Dach einer Tankstelle. Bläuliches AralLicht, Benzinduft, Bierholer, samstägliche Partygänger. Fast Mitternacht. Da kam sie. Schweres, schwarzes Hollandrad, Mandelaugen, suchte Zuflucht und eine Montagehand. Die Kette! Ich gab mein Bestes, sie holte ein Bier. Eine Flasche! Sie trank und ließ mich trinken, fasste meine schwarzen Ölhände, gab mir einen Kuss und fuhr durch den Regen davon.

Manchmal liebe ich Kopfsteinpflaster und möchte erschüttert werden. Dann fahre ich nach Zehlendorf, lasse mich in der Kleist-, Schiller- oder Goethestraße durchschütteln und fahre völlig befriedet wieder nach Hause. Auch der Fall der Mauer bescherte mir das ein oder andere Fahrradabenteuer, das mich erbeben ließ. Eines frühen Sommerabends, die Sonne öffnete gerade Prosecco-Flaschen, fahre ich die Yorckstraße entlang. Komme an die Kulmer Straße, halte an einer Ampel. Bei Grün fahre ich los, sehe zwar den orangen Trabbi von rechts, denke aber, er hält. Ob mich der Fahrer für einen Grenzer mit Maschinenpistole hält? Wie in Zeitlupe stoßen wir zusammen. Ich rutsche hinunter, liege auf dem Asphalt. Zwei sehr junge Männer steigen aus. Sie jammern, entschuldigen sich, wollen mich hochziehen. O, der Himmel so blau, die Sonne so beschwipst! "Er hat ihn doch erst seit einer Woche!", jammert der eine. Wen? Den Wagen? Den Führerschein? Ich bin noch so benommen von der Wiedervereinigung, dass ich die beiden mit tränenfeuchten Augen laufen lasse. Erst Tage später meldet sich ein leichter Nackenschmerz. Schleudertrauma. Dem Rad ist nichts passiert.

Und dann war da noch das Jahr, in dem ich mich in Jan Ullrich verwandelte. Nachdem die olle Pausbacke die Tour de France gewonnen hatte, wurde für mich jede Fahrt zur Tour-Etappe. Ich fuhr die tollsten Rennen, nahm es als tapsiger Hollandradfahrer (drei Gänge) mit hochtourigen Renngazellen auf. War mein eigener Kommentator, mein Begleitfahrzeug, mein Antipode, mein Hubschrauber, mein gelbes Trikot. Kam ich verschwitzt nach Hause, gab ich mir links und rechts einen Kuss und legte mir ein Lorbeerblatt auf den Kopf. So war das in diesem Sommer. Auch schon mal Hand in Hand durch die Stadt geradelt? Die schrecklichsten Straßen spucken dann Euphorie. Ja, es gibt Straßen, die kann man eigentlich nur in größter Verliebtheit passieren, anders überlebt man sie nicht. Etwa die Putlitzbrücke, auf der man mörderische Gleise überquert, wo es schreckliche Verkehrsunfälle gibt und die Stadt so aussieht, als würde jeden Tag ein Mordopfer oder ein Selbstmörder hier aus dem Wasser gezogen oder in einem Container gefunden. "Tatort"-Revier! Gäbe es mehr Kommissare auf dem Rad, hätten es die Verbrecher schwerer.

Und die Fahrraddiebe? Die auch? Nachdem wir den neorealistischen Film „Fahrraddiebe“ von Vittorio de Sica im alten Arsenal in der Welserstraße gesehen hatten, wollten wir im Bild-, Bier- und Lebensrausch auch ein Fahrrad stehlen (und es zurückgeben!). Aber das Einzige, was kaputtging, waren zwei Fingernägel. Wann immer Sie können, schauen Sie sich diesen Film an, fahren Sie mit dem Rad zum Kino, nehmen Sie jemanden auf dem Gepäckträger oder der Stange mit und versuchen Sie, den Rhythmus der Bilder im Herzen davonzutragen.

Alles gut in Fahrrad-Berlin? Nein, es gibt auch traurige Geschichten - Welche, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Genug geschwärmt, jetzt wird wieder geschimpft. Der Arm-aber-sexy-Klaus, der amtierende Fahrrad-Unfreundliche, hätte vermutlich mehr Metropolenfantasie im regierenden Oberstübchen, wenn er die Stadt ab und an mit dem Dienstrad erkunden würde. Er wäre näher dran. An uns! Am Bürger! Unseren Sorgen und Wünschen! Einmal an meiner Seite durch die Stadt geschippert und vielen wäre geholfen. Ich nehme mir die Zeit, echt! Hab auch ein Rad, falls es daran hapern sollte.

Es gibt auch traurige Fahrradgeschichten. Viele Jahre bewahrte ich einen Zeitungsartikel auf. Eine junge Frau, eine Malerin, war durch die Stadt geradelt, bis ein Bauteil aus schwindelnder Höhe auf sie herabfiel. Die Tote lässt mich nicht los. Auch nicht das Kind, das an der Katzbachstraße, Ecke Kreuzbergstraße von einem Laster überfahren wurde. Immer kam ich an dem improvisierten Gedenktäfelchen, den Blumensträußen vorbei. Die Stadt diskutierte über die Kosten von Außenspiegeln, die Ampelphase wurde verändert. Die Eltern zogen wohl fort.

Die Gegenwart, eine andere Melodie. Herbstleuchten, Frühnebel, die ersten langen Unterhosen, Handschuhe, Schal. Jetzt erst recht! Kleine Radfahrertypologie gefällig? Der Kurier: Er fährt von A nach B, die Message ist er selbst, sein Durchstechen, Lavieren, sein Antritt, seine Odyssee! Der Hedonist: teures Mountainbike, er fährt seltener, als es den Anschein hat, demonstriert Stärke, Individualität – ein Rad ist wie ich, wir kennen keine Grenzen. Das Blumenkind: meist auf dem Hollandrad, wehendes Haar, wehende Kleider. Häufige Verbreitung in Kreuzberg und Prenzlberg. Der Radikalinski: Extremer Mountainbiker, der ohne Rücksicht auf Selbst- und Fremdverlust über Bürgersteige und Treppen jagt. Der Traditionalist: Hollandrad, Akademiker, arbeitet oft als Assistent für Bundestagsabgeordnete, Ledertasche am Rahmen. Der Postmaterialist: dass dessen Rad noch fährt, grenzt an sämtliche Wunder. Klappernde Ketten, oft eine Acht im Hinterrad, aber Crumpler-Tasche mit dem neuesten iBook.

Der Playboy: taucht nur im Sommer auf. Italienischer Rahmen, weißes Hemd, Jeans, Ray-Ban-Sonnenbrille. Will nur spielen, bisschen fummeln, das Rad ist Flirt-Requisite. Der Tourist: Wird neuerdings geführt! Wie Entenküken schlingern Berlin-Besucher auf Bikes bedächtig hinter dem Guide her, Augen schnuppern nach links und rechts, die Schultern mitunter furchtsam hochgezogen, sanfte Stadteroberer. Der Berserker-Opi: teures Trikot, teures Rennrad, teurer Bauch, dürre Beine, oft mit sorgfältig gestutztem Bart. Der Ströbele: gibt’s wirklich, aber nur einmal, ein Mann, ein Haarschopf, ein Rad mit buschigen Augenbrauen, grüner Fahrradheld im Görlitzer Park. Und ich? Bedachtsamkeitsapostel, Träger des lyrischen Trikots, Kindersitzinhaber, Ampel-Aktivist, Damenradbewunderer.

Wer die Stadt und sich selbst retten will, steigt aufs Rad und tritt in Träume, als flanierender Pedaleur. Ein letztes Begegnungsbild, Akazien-Ecke Belziger Straße. Vor mir hält ein radfahrender Pfeifenraucher. Ich von hinten: "Schmeckt denn das, eine Pfeife auf dem Rad?!" Er, ein Mittdreißiger mit Bart, Nerdbrille und Mütze, antwortet: "Ja, aber nur wenn ich langsam fahre." Also mehr Pfeifen aufs Rad, dann wird’s was mit der Welt-, Stadt- und Selbstrettung.

Torsten Körner lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Probeliegen. Geschichten vom Tod“ (Scherz Verlag)

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