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Der Film „Goldkinder“, ein Mix aus Doku, Musikclip und fiktionalen Elementen, ist in den Jahren 2013 bis 2016 entstanden.

© promo

Familie im Film: Berliner Pflegekinder vor der Kamera

Ihre Leben haben oft dunkle Kapitel. In einem Filmprojekt haben einige jugendliche Pflegekinder ihre Erfahrungen verarbeitet. Nun ist es zu sehen.

Heute gehört die große Bühne ihnen, denn heute läuft „Goldkinder“, ein Film von und mit Berliner Pflegekindern, auf dem internationalen jungen Rec-Filmfestival in der Ufa-Fabrik. Die sechzehnjährige Lea ist schon total gespannt, was sie erwartet, obwohl sie selbst in dem Film mitspielt und auch hinter der Kamera stand. An einige Szenen kann sie sich aber nicht mehr so genau erinnern.

Der Film, ein Mix aus Dokumentarfilm, Musikclip und fiktionalen Elementen, ist ein Langzeitprojekt. Er ist in den Jahren 2013 bis 2016 entstanden. Was sie damals in den ersten Interviews vor der Kamera gesagt hat, weiß Lea, die gerade ihr Fachabi macht, nicht mehr – da war sie ja erst 13. Deswegen hat sie auch keine Freunde zur heutigen Filmpremiere in die Ufa-Fabrik in Tempelhof eingeladen. „Das muss jetzt nicht unbedingt jeden interessieren“, meint sie.

Pflegekinder erzählen ihre Lebensgeschichten

Dafür ist der Film vielleicht auch zu persönlich, denn die Kinder erzählen darin auch ihre Lebensgeschichten. Das verlangt ganz schön viel Mut, weil es nicht unbedingt Geschichten sind, die man gerne erzählt. Die Kinder und Jugendlichen wachsen in Pflegefamilien auf, weil ihre eigenen Eltern sie vernachlässigt oder misshandelt haben, und sie aus ihren Familien herausgenommen wurden. Die Filmemacherin Sigrun Schnarrenberger, die die Film-Workshops angeleitet hat, sagt: „Es ging auch darum, dass die Kinder lernen, dazu zu stehen, wer sie sind.“

Langzeitprojekt. Der Film "Goldkinder", ein Mix aus Dokumentarfilm, Musikclip und fiktionalen Elementen, ist in den Jahren 2013 bis 2016 enstanden.
Langzeitprojekt. Der Film "Goldkinder", ein Mix aus Dokumentarfilm, Musikclip und fiktionalen Elementen, ist in den Jahren 2013 bis 2016 enstanden.

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„Du kommst ja aus einer kaputten Familie“

Petra Schrödel, die Vorsitzende des Arbeitskreises zur Förderung von Pflegekindern, weiß, wie schnell Pflegekinder abgestempelt werden. Ein Pflegekind zu sein, sei ein Stigma: „Du kommst ja aus einer kaputten Familie“, so etwas hören die Kinder oft. Gut für das Selbstbewusstsein ist das nicht.

Ihre Vergangenheit kommt den Kindern immer wieder in die Quere. Nicht zuletzt, wenn es darum geht, eine Pflegefamilie zu finden. Peter Heinßen von der Landesberatungsstelle „Familien für Kinder“, die im Auftrag der Senatsverwaltung für Jugend und Familie die Vermittlung von Pflegekindern übernimmt, sagt, dass es in Berlin zu wenige Pflegefamilien gibt. „Manche trauen sich nicht zu, ein Pflegekind aufzunehmen, weil sie fürchten, dass diese Kinder besonders schwierig sind.“

Die Eltern ließen den Neunjährigen verwahrlosen

Jana Meiners und ihre Partnerin Claudia Lenge haben sich trotzdem dafür entschieden. Sie haben zwar nichts mit dem Filmprojekt zu tun, können aber einiges darüber erzählen, was es bedeutet, ein Pflegekind aufzunehmen. Seit über drei Jahren lebt der heute neunjährige Emilio, der eigentlich anders heißt, nun bei ihnen. Er musste aus seiner eigenen Familie herausgenommen werden, weil seine Eltern ihn und seine Geschwister verwahrlosen ließen.

„Das war keine Augenwischerei, da wurde Klartext geredet.“

Wie alle Pflegeeltern haben Meiners und Lenge, die beide Mitte 40 sind, und in Wirklichkeit ebenfalls anders heißen, einen langen Prozess durchlaufen, bis sie Emilio zu sich nehmen konnten. Es wurde überprüft, ob das Paar geeignet ist, dauerhaft für ein Pflegekind zu sorgen. Eingeschätzt wird dabei die emotionale Stabilität der zukünftigen Pflegeeltern, aber auch ihre finanzielle Situation.

Die muss so gesichert sein, dass sich ausschließen lässt, dass sie aus finanziellen Gründen ein Pflegekind aufnehmen würden. Denn die Familien erhalten für die Versorgung des Kindes auch Geld. Insgesamt soll die Überprüfungsphase ungefähr neun Monate dauern - genauso lang wie eine Schwangerschaft. Meiners findet, dass die Mitarbeiter der Beratung während dieser Zeit ein realistisches Bild davon gezeichnet haben, was auf eine Pflegefamilie zukommt: „Das war keine Augenwischerei, da wurde Klartext geredet.“

Bratwurstschnecken, Kartoffeln und Kohlrabi

Als Jana Meiners und Claudia Lenge Emilio das erste Mal gesehen haben, war er fünf Jahre alt und seit einigen Monaten bei einer Kurzzeitpflegemutter untergebracht, weil er nicht länger bei seinen leiblichen Eltern bleiben konnte. Ein paar Wochen später durften Meiners und Lenge ihn dann zum ersten Mal mit in ihre Wohnung in Prenzlauer Berg nehmen. Sie wissen noch genau, was es an diesem Tag gab: Bratwurstschnecken, Kartoffeln und Kohlrabi. Das ist ihnen nicht wegen der gut-bürgerlichen Küche in Erinnerung geblieben, sondern weil das Thema Essen eine besondere Rolle für Emilio spielt. Er und seine Geschwister hatten in ihrer eigenen Familie nicht immer genug zu essen.

Emilio ist emotional noch immer labil

Es ist nicht das einzige Päckchen aus dieser Zeit, das Emilio bis heute mit sich herumträgt. Jana Meiners hat mittlerweile gelernt zu akzeptieren, dass ein Kind, das in seinen ersten Lebensjahren emotional und körperlich so gravierend vernachlässigt wurde, traumatisiert ist. Emilio ist emotional noch immer labil. Mit Enttäuschungen kann er nur schwer umgehen, dafür ist er schon zu oft und zu tief enttäuscht worden. Meiners geht mit Emilio zur Therapie, aber nicht alles, was in den ersten Lebensjahren versäumt wurde, kann später nachgeholt werden. „Man kann oft nur noch einen Kuss auf die Wunde geben“, meint Meiners.

„Ich habe immer gedacht, mit Liebe wird alles gut.“

Dass sie nicht alles heilen kann, was in Emilio zerbrochen ist, hat sie erst im Laufe der Zeit wirklich verstanden: „Ich habe immer gedacht, mit Liebe wird alles gut.“ Es kostet sie Kraft, dass Emilio so schnell sein emotionales Gleichgewicht verliert, dabei kommt sie auch an ihre Grenzen. Deswegen ist sie froh, dass es so ein umfassendes Unterstützungsnetz für Pflegeeltern gibt. Wenn sie möchten, erhalten sie in allen Belangen Hilfe: in pädagogischen Fragen ebenso wie in finanziellen. Das verlangt aber auch den Eltern einige Offenheit ab. „Man muss dazu bereit sein, seine Probleme anzusprechen und sich Hilfe zu holen“, sagt Meiners.

Einige Krisen hätten sich wohl vermeiden lassen

Kritisch sieht sie, dass die Betroffenen die Angebote teilweise nicht so wahrnehmen können, wie sie eigentlich gedacht sind, weil die Kapazitäten nicht ausreichen. So sollen Pflegeeltern eigentlich im ersten Jahr eine Schulung besuchen, die sie auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. Meiners musste aber zweieinhalb Jahre auf einen freien Platz warten. Also hat sie erst im letzten Winter gelernt, wie sie die Bindung zu ihrem Pflegesohn im ersten Jahr hätte stärken können. „Das ist wirklich schade. Ich hätte einiges anders gemacht, wenn ich das vorher gewusst hätte“, sagt sie. Einige Krisen hätten sich dadurch wohl vermeiden lassen.

Die Entscheidung hat sie keine einzige Sekunde bereut

Aber auch wenn es immer mal an der einen und anderen Stelle hakt: Die Entscheidung, Emilio zu sich zu nehmen, hat sie nicht eine einzige Sekunde bereut. „Auch nicht in den anstrengendsten Momenten“, sagt Meiners. Denn es gibt ja auch die vielen anderen Momente, in denen Emilio ein ganz reizendes Kind mit einem umwerfenden Charme ist. Ihn bei sich zu haben, empfindet sie als riesige Bereicherung.

Die Pflegeeltern von Lea dürfen heute Abend mit zur Vorführung des Films kommen; sie hat sie dann doch eingeladen. Ein bisschen stolz ist sie ja auch. Dass „Goldkinder“ für das Festival ausgewählt worden ist, findet sie „richtig cool“. Immerhin hat es ihr Film aus über 700 Einreichungen aus 19 Ländern unter die 70 Filme geschafft, die hier gezeigt werden. Damit geht er auch in das Rennen um den „Golden Clip“, der auf dem Festival verliehen wird. Ein „Golden Clip“ für die „Goldkinder“ – passen würde das ja.

Der Film „Goldkinder“ wird am 20. September 2017 um 18 Uhr in der Ufa-Fabrik, Viktoriastraße 10-18, gezeigt. Informationen unter www.rec-filmfestival.de

INFORMATIONEN FÜR ANGEHENDE PFLEGEELTERN

In Berlin werden dringend Pflegefamilien gesucht. Im letzten Jahr wurde in mehr als 8000 Fällen eine akute oder latente Kindeswohlgefährdung festgestellt. Und mehr als 800 Kinder wurden nach einem Gerichtsbeschluss in Obhut genommen.

KURZZEITPFLEGE

Wenn sich ihre leiblichen Eltern in einer akuten Krisensituation befinden, werden die Kinder zunächst für einen befristeten Zeitraum aus ihren Familien genommen. Für diese Zeit kommen die Kinder in Kurzzeitpflege, die auf eine Dauer von drei bis sechs Monaten angelegt ist. Besonders für diese Form der Pflege fehlen Plätze. Wenn es nicht genügend Familien gibt, die Kinder kurzzeitig aufnehmen, müssen sogar Kleinkinder in Heimen untergebracht werden.

LANGZEITPFLEGE

In ungefähr der Hälfte der Fälle schaffen es die leiblichen Eltern während der Dauer der Kurzzeitpflege, sich so weit zu stabilisieren, dass ihre Kinder wieder zu ihnen zurückkehren können. Gibt es aber keine Aussicht auf bessere Umstände in einer Familie, wird Langzeitpflege für ein Kind vorgesehen. In der Regel bleiben diese Kinder dann bis zur Volljährigkeit in den Pflegefamilien. Wenn es möglich ist, bleiben sie weiterhin mit ihren leiblichen Eltern in Kontakt. 2016 lebten knapp 2600 Berliner Kinder dauerhaft in Pflegefamilien.

BERATUNG

Familien, Paare oder Alleinerziehende, die Pflegekinder aufnehmen möchten, werden vom Jugendamt und der Landesberatungsstelle begleitet. Infos bei „Familien für Kinder“ unter Tel. 2100210 oder www.pflegekinder-berlin.de. Den Arbeitskreis zur Förderung von Pflegekindern findet man unter www.arbeitskreis-pflegekinder.de.

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