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Dreiste Diebe. Wenn Kinder oder Jugendliche etwas stehlen, handeln sie meist impulsgesteuert. An die Konsequenzen denken sie dabei nicht.

© Nikki/Mauritius

Familie und Erziehung: Wenn Kinder klauen

Erst fehlen 10 Euro, dann 20 oder 50: Wenn Kinder klauen, bricht für Eltern eine Welt zusammen. Sie zweifeln an ihren Kindern und sich selbst.

Michael Hübner* kann sich genau an den Tag erinnern, an dem aus dem unguten Gefühl Gewissheit wurde. Sein Vater war zu Besuch, er stand mitten im Wohnzimmer und durchwühlte seine Taschen. Was er nicht fand, war sein Geld. Gerade erst hatte er 400 Euro von der Bank abgehoben. Aber das ganze Geld war weg.

Hübner war in diesem Moment klar, wo sie die 400 Euro suchen mussten und wohl auch all die anderen kleinen und großen Scheine, die er und seine Frau in der letzten Zeit vermisst hatten. Sie hatten viele Erklärungen dafür gefunden – verlegt, falsch rausgegeben – nur die eine nicht: Dass ihr Sohn Elias*, gerade mal acht Jahre alt, sie beklaute. Heimlich ihre Geldbörsen öffnete und sich bediente, mal zehn, mal zwanzig, mal fünfzig Euro herausnahm.

Noch am gleichen Tag stellte er seinen Sohn zur Rede. Zuerst stritt Elias alles ab, aber lange hielt er das nicht durch. Unter Tränen gestand er, dass er das Geld genommen hatte. Es folgte der Büßergang zum Opa. Von da an verschwanden vorerst keine Geldbeträge mehr aus den Portemonnaies der Familie.

Zwei Jahre hatten die Eltern Ruhe, dann ging es von vorne los

Wie viele Familien in Berlin von häuslichem Diebstahl betroffen sind, lässt sich nur schwer beziffern. Die Polizei geht davon aus, dass das Dunkelfeld sehr hoch ist. Die wenigsten Eltern würden ihr eigenes Kind anzeigen. Besser ist die Datenlage, was den Ladendiebstahl betrifft. 2015 wurden in Berlin rund 36.000 Fälle angezeigt. Diese Ladendiebstähle wurden etwa 21.000 Tatverdächtigen zugeordnet. Etwas mehr als ein Sechstel der Tatverdächtigen, nämlich 3.762, waren zum Zeitpunkt der Tat minderjährig.

Familie Hübner hatte nach dem Vorfall mit Elias’ Opa zwei Jahre Ruhe. „Dann ging alles wieder von vorne los“, sagt der Vater. Vier Jahre später tauchten mit einem Mal Dinge in Elias’ Zimmer auf. Süßigkeiten, Schreibwaren und aller mögliche Krimskrams stapelten sich in seinen Regalen und Schränken. Michael Hübner war gleich klar, was das bedeutete: Ladendiebstahl. Der heute 59-Jährige und seine Frau gingen auf dem Zahnfleisch. Was stimmte denn nicht mit ihrem Sohn? Sie stellten Elias zur Rede, bestanden darauf, dass er zurückging in den Schreibwarenladen in ihrem Schöneberger Kiez, aus dem er die Sachen geklaut hatte. Elias musste sich beim Inhaber entschuldigen und alles, was er hatte mitgehen lassen, von seinem Taschengeld bezahlen. Für den damals Vierzehnjährigen war es einer der peinlichsten Momente seines Lebens.

Aus der Sicht der Familientherapeutin Dörte Foertsch war es richtig, diesen Weg zu wählen. „Kinder sollten ein von ihnen begangenes Unrecht selbst wieder aus der Welt schaffen. Eltern dürfen ihren Kindern das nicht abnehmen“, sagt sie. Eine solche Erfahrung sei sehr heilsam. Auch wenn Kinder und Jugendliche beim Ladendiebstahl erwischt würden, habe das in aller Regel eine abschreckende Wirkung: Die Polizei fährt vor, eine Anzeige wird geschrieben. Anschließend werden zumindest Jugendliche unter 14 persönlich von der Polizei an ihre Eltern übergeben. „Das sitzt“, meint Foertsch.

Die Jugendlichen handeln impulsgesteuert

Die Jugendbeauftragte der Berliner Polizei, Lydia Lau, sagt, dass unter den jugendlichen Ladendieben Mädchen und Jungen ungefähr gleich häufig vertreten seien. Wenn Jugendliche nur einmal etwas klauten, handele es sich meist um sogenannte „jugendliche Delinquenz". Damit werden Straftaten bezeichnet, die impulsgesteuert sind und auf die alterstypische Gedankenlosigkeit zurückgeführt werden. „Es kommt vor, dass eine Jugendliche einen Lippenstift, den sie unbedingt haben will, einfach einsteckt. An die Konsequenzen denkt sie in dem Moment gar nicht“, sagt Lau. In vielen Fällen gehe es den Jugendlichen darum, ihre Grenzen zu testen. Dann zähle allein die Grenzüberschreitung, das Produkt spiele überhaupt keine Rolle. „In so einem Fall klaut zum Beispiel ein Junge, der zu Hause alles hat, einen Joghurt“, erklärt Lau. Wenn ein Kind einen Diebstahl dieser Art begehe, müssten Eltern den Vorfall nicht überbewerten, meint die Jugendbeauftragte. „Eltern sollten aber unbedingt mit ihrem Kind reden und ihm verdeutlichen, was passiert, wenn es sein Verhalten nicht ändert“, sagt sie.

Wird ein Minderjähriger wegen Ladendiebstahls angezeigt, informiert die Polizei die Eltern und das Jugendamt schriftlich über die Straftat des Kindes. Die Anzeige geht an die Staatsanwaltschaft, die über den weiteren Fortgang der Strafsache entscheidet. Bei Jugendlichen unter 14 wird das Verfahren aber eingestellt, weil sie noch nicht strafmündig sind. Kinder über 14 werden zusätzlich zur Polizei vorgeladen, die sie über drohende Konsequenzen bei Folgetaten aufklärt. Manche müssen dann Sozialstunden leisten.

Die Eltern von Elias machten sich nach den Ladendiebstählen große Sorgen um ihren Sohn. Hübner, der als Filmemacher tätig ist, sagt heute: „Als sich das wiederholte, hatte ich das Gefühl, dass er zu labil ist. Meine Angst war, dass er später zum Beispiel anfälliger für Drogen sein könnte“. Mit diesen Sorgen fühlten sie sich lange Zeit sehr alleine. Weil sie ihren Sohn nicht in ein schlechtes Licht rücken wollten, hatten sie sich fast niemandem anvertraut. Die ganze Angelegenheit war ihnen peinlich. Schließlich suchten sie Rat bei einem Familiencoach. Der schaute sich die ganze Familienkonstellation an. Elias ist das älteste von fünf Kindern. Er war sieben, als sein erstes Geschwisterkind zur Welt kam, zwei Jahre später folgten die Zwillinge und nach weiteren vier Jahren noch ein Baby. Durch die Arbeit mit dem Coach fiel ihnen auf, dass Elias jeweils ungefähr ein Jahr nach der Geburt eines Geschwisterkindes angefangen hatte zu klauen. „Er hatte offensichtlich das Bedürfnis, sich etwas zurückzuholen, das ihm an anderer Stelle an Zuwendung fehlte“, meint Hübner.

Die Familientherapeutin Dörte Foertsch sagt, dass Kinder generell besonders dann anfällig seien, wenn sich in ihrem persönlichen Umfeld viel verändere. So könnten etwa ein Umzug oder ein Jobwechsel dazu führen, dass Eltern mehr mit sich selbst beschäftigt sind. „Wenn ein Diebstahl auffliegt, richtet sich die Aufmerksamkeit aber definitiv wieder auf das Kind“, sagt Foertsch. Die Diebstähle im häuslichen Umfeld seien im Prinzip darauf angelegt: „Die sollen auch zu Hause entdeckt werden“, meint sie.

Elias' Verhalten vor diesem Hintergrund zu betrachten, habe ihnen sehr dabei geholfen, mit der Situation umzugehen, sagt Hübner heute: „Das ist wie bei einer Krankheit. Es verunsichert einen am meisten, wenn man Symptome sieht, aber die Ursache nicht klar ist“. Mittlerweile liegt der Tag, an dem Elias bei dem Schreibwarenhändler vorsprechen musste, rund vier Jahre zurück. Seitdem ist nie wieder etwas vorgefallen. Elias hat mit Bestnoten sein Abitur bestanden und wird im kommenden Semester ein naturwissenschaftliches Studium aufnehmen. Ein weiteres Geschwisterkind kam auch nicht mehr zur Welt.

*Namen geändert

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