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Kein seltenes Bild dieser Tage: Ein Kind spielt im Homeoffice der Mutter.

© imago images/photothek

Familienleben während der Coronakrise: „Nur zehn Prozent der Frauen verdienen mehr als 2000 Euro netto“

Nina Stahr, Vorsitzende der Berliner Grünen, spricht im Interview über ein Corona-Elterngeld, Altersarmut von Frauen und ein Umdenken in der Familienpolitik.

Frau Stahr, als Reaktion auf den ersten deutschen Lockdown haben Sie das Buch „Die Krise ist weiblich“ geschrieben. Darin beklagen Sie, dass die Familien, insbesondere die Frauen, die Verlierer der Pandemie sind. Sehen Sie das im aktuellen Lockdown immer noch genauso drastisch? Immerhin kam es erst spät zu Schulschließungen und es gibt jetzt Kinderkrankengeldtage.
Insbesondere in der Berliner Koalition war es uns wichtig, zu sehen, dass Familien und Kinder jetzt besser durch die Pandemie kommen, aber wir mussten uns auch an dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz orientieren. Ich habe den Eindruck, dass auf Bundesebene nach wie vor nicht genug gesehen wird, dass für Familien und Kinder mehr getan werden muss. Das braucht eine höhere Priorität.

Es ist gut, dass es jetzt zusätzliche Kinderkrankentage gibt. Doch die werden bis Ende Februar aufgebraucht sein. Was passiert danach? Was ist, wenn der Lockdown noch länger dauert? Oder wenn das Kind im April oder Mai noch mal krank wird? Außerdem stehen sie nur gesetzlich Versicherten zur Verfügung. Ich hätte mir eine langfristigere Lösung für alle Familien mit ihren individuellen Bedürfnissen gewünscht.

Wie stehen Sie zu der Entscheidung, dass die Schulen jetzt doch erst frühestens am 15. Februar wieder öffnen?
Ich kann nachvollziehen, dass das aufgrund der Pandemie-Situation notwendig ist. Aber mir fehlt ein langfristiger Plan, was das für die Schülerinnen und Schüler bedeutet. All die Fragen, die sich jetzt rund um Abschlüsse stellen oder ob das Schuljahr freiwillig wiederholt werden kann, müssen jetzt entschieden und auf den Weg gebracht werden. Genauso sehe ich, dass die aktuelle Situation für Eltern sehr schwer ist, deswegen ist das Mindeste, was wir tun können, frühzeitig klare Perspektiven aufzuzeigen, wie es weiter gehen kann. 

Was hätten Sie als Grünen-Politikerin auf der Bundesebene anders gemacht?
Bereits in der ersten Welle haben wir Grünen beispielsweise ein Corona-Elterngeld vorgeschlagen. Das könnte so ausgestaltet sein, dass beide Elternteile einen Teil der Sorgearbeit übernehmen und in Teilzeit weiterarbeiten. Man hätte es so gestalten müssen, dass auch Selbstständige davon profitieren, was bei den Kinderkrankentagen eben nicht der Fall ist.

Da fallen nach wie vor viel zu viele durchs Raster, weil eben auch niemand eine Priorität darauf gesetzt hat. Ich hätte beispielsweise die Leute eher ins Homeoffice geschickt, damit man die Inzidenz niedrig halten kann und somit die Schulen schneller öffnen kann.

Dennoch bin ich froh, dass wir in Berlin durch die Notbetreuung in Kitas allen Kindern, die es wirklich brauchen, eine Betreuung zusichern. Klar ist aber auch: Homeoffice und Kinderbetreuung passen nicht zusammen – Eltern, deren Kind keinen Anspruch auf Notbetreuung hat, brauchen deshalb Alternativen wie zum Beispiel unser Corona-Elterngeld.

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Momentan bleiben Homeschooling und Kinderbetreuung häufig bei den Müttern hängen. Sie schreiben in Ihrem Buch, die Probleme sind viel grundsätzlicher. Was müsste sich ändern, damit in einer nächsten Pandemie die Aufgaben gerechter zwischen Männern und Frauen aufgeteilt werden würden?
Wir brauchen einen breiten Konsens, dass Kinderrechte in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommen müssen. Wenn wir Familienpolitik vom Kind aus denken, hat das auch Auswirkungen auf Arbeit und Leben der Eltern. Selbst zu normalen Zeiten, ohne Corona, sind zwei Vollzeitjobs mit Kind oder Kindern für Eltern kaum zu schaffen, ganz zu schweigen von den Bedürfnissen der Kinder. Deswegen ist es nachvollziehbar, dass viele Eltern in Teilzeit gehen. Aber es sind fast immer die Frauen, weil sie weniger auf dem Gehaltszettel stehen haben. Deshalb muss man dafür sorgen, dass Männer und Frauen gleich viel verdienen, damit sie sich Sorge- und Erwerbsarbeit gleichberechtigt teilen können. Das ließe sich über verschiedene politische Instrumente erreichen.

Das Ehegattensplitting müsste abgeschafft werden. Und wir brauchen ein Entgeltgleichheitsgesetz. Dazu gehört auch eine finanzielle Aufwertung der Berufe, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden. Das sind die vielen sozialen Berufe, Pflegerinnen, Erzieherinnen, die häufig unterdurchschnittlich bezahlt werden, aber einen wichtigen Stellenwert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. Eine echte Frauenquote in den Chefetagen wäre noch ein anderes Puzzleteil.

Nina Stahr, Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Berlin
Nina Stahr, Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Berlin

© promo

[Nina Stahr ist seit 2016 Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Berlin. Neben der Führung des Landesverbands in der rot-rot-grünen Regierung hat sie vor allem bildungs- und familienpolitische Schwerpunkte gesetzt. Zuletzt hat sie das Buch "Die Krise ist weiblich - wie wir Familienaufgaben gerechter aufteilen und was Politik dafür tun muss" geschrieben.]

Häufig läuft es ja so: Viele Frauen, gerade in einer Universitätsstadt wie Berlin, studieren lange, finden erst spät in den Beruf, arbeiten dann nur kurze Zeit bis das erste Kind kommt und reduzieren dann drastisch ihre Arbeitszeit, weil der Mann ja gut verdient. Wie ließe sich das ändern?
Hierbei ist das Elterngeld ein weiteres wichtiges steuerndes Element. Es müsste partnerschaftlicher aufteilt werden. Unsere Grünen-Bundestagsfraktion hat dazu bereits Konzepte vorgelegt. Anreize dazu müssten über Bonusmonate geschaffen werden. Aufgrund biologischer Gegebenheiten ist es natürlich häufig so, dass die Frau zunächst zu Hause bleibt, aber der Switch, dass der Vater sich relativ bald genauso gut um das Kind kümmern könnte, passiert oft nicht – weil es an Rollenvorbildern mangelt.

In Schweden kriegt man das volle Elterngeld nur, wenn man es sich partnerschaftlich aufteilt. Wenn man so eingreift, schafft man einen gesellschaftlichen Wandel. Mein Mann, der bei unserem zweiten und dritten Kind den Großteil der Elternzeit übernommen hat, der wurde dafür von seinen Kollegen belächelt. Häufig sind es nur kleine spitze Bemerkungen.

Nicht selten sind es sogar mehr als spitze Bemerkungen. Viele Männer stehen beruflich unter Druck. Konservative Chefs, gerade in mittelständischen Betrieben, gehen selbstverständlich davon aus, dass zum Beispiel Arzttermine oder Krankheitstage automatisch von der Frau übernommen werden. Wie würden Sie hier eingreifen?
Wenn es alltäglicher wird, dass auch Männer sich um Sorgearbeit kümmern, dann wird das auf Dauer einfacher. Die zwei Monate Elternzeit, die Väter meistens nehmen, sind ja mittlerweile auch akzeptiert. Wenn ich als Chef jetzt eine junge Frau einstelle, dann weiß ich, dass, wenn sie schwanger wird, sie wahrscheinlich ein Jahr ausfallen wird. Wenn ich aber einen jungen Mann einstelle, dann wird der wahrscheinlich nur zwei Monate ausfallen, das kann ich gut überbrücken.

Wenn beide Eltern etwa gleich lang ausfallen, so wie in Skandinavien, dann wird der Mann nicht mehr zwingend bevorzugt behandelt. Und die Diskussion, warum der Mann jetzt unbedingt zu Hause bleibt, wird irgendwann auch wegfallen. Es ist ein Prozess. Dafür bräuchte es aber auch einen Kündigungsschutz für Männer, die Elternzeit nehmen wollen, das gibt es momentan nicht.

Wie kann die Politik sonst eingreifen?
Wir brauchen einen Konsens, dass wir Familien unterstützen wollen und das nicht beide Eltern 40 Stunden in der Woche arbeiten können, sonst sind die Kinder zehn Stunden am Tag in der Kita. Kürzere Arbeitszeiten, für Eltern eine 30-Stunden-Woche, wären hilfreich. Mehr Homeoffice, damit lange Wegzeiten wegfallen und flexiblere Arbeitszeiten. Das nimmt den Eltern jede Menge Druck. Natürlich darf es dabei aber zu keiner Entgrenzung von Berufs- und Privatleben kommen. Außerdem brauchen wir ein umfassenderes Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit.

Die meisten arbeiten ja gar nicht freiwillig in Vollzeit, sondern weil sie den Lebensstandard für die Familie erhalten wollen.
Da müsste man diskutieren, ob man mit Ausgleichszahlungen im Niedriglohnbereich aushelfen kann. Es gibt auch Familien, die es sich gar nicht leisten können, dass Väter Elternzeit nehmen, weil die Familie nicht auf ein Drittel des Gehalts des Mannes verzichten kann. Da muss man auch mal vom Kind her denken und fragen, warum nur bestimmte Kinder ein Recht haben, vom Vater betreut zu werden. Für viele ist es aber gar nicht immer ein finanzielles Problem. Sie wollen nur keinen Knick in der Karriereleiter bekommen oder haben Angst, nicht in eine Vollzeitstelle zurückzufinden.

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Das Durchschnittsgehalt der Frauen in Deutschland liegt etwa bei einem Bruttomonatsverdienst 3500 Euro. Die meisten arbeiten aber in Teilzeit. Was kommt auf eine Frau im Alter zu, wenn sie die meiste Zeit ihres Lebens etwa nur 2000 Euro netto monatlich verdient hat?
Das sorgt dafür, dass wenn eine Frau 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat und 2000 Euro netto verdient hat, sie am Ende mit gut 700 Euro Rente rauskommt. Das ist unter dem Existenzminimum. Wenn der Mann stirbt, bekommt sie noch ein bisschen Witwenrente dazu, das ist meist nicht erwähnenswert, und bei einer Scheidung fallen davon auch viele Rentenpunkte weg. Als Frau rutscht man automatisch ganz schnell in die Altersarmut. Ich bin sehr dafür, dass jede Frau entscheiden kann, wie viel sie arbeiten möchte, aber diese Entscheidungsfreiheit haben viele Mütter derzeit meiner Meinung nach nicht, weil die Strukturen so sind. Das ist häufig nicht selbst gewählt, sondern ein erzwungenes Schicksal und da müssen wir ran.

Bundesweit haben übrigens nur zehn Prozent der Frauen ein Nettoeinkommen von mehr als 2000 Euro. Und nur knapp 40 Prozent der Frauen sind zwischen 30 und 50 Jahren Vollzeit berufstätig, bei den Männern sind es fast 90 Prozent. Spannend fand ich bei meiner Recherche übrigens, dass auch homosexuellen Paare mit Kindern sich so aufteilen: ein Elternteil macht überwiegend Erwerbsarbeit, der andere kümmert sich überwiegend um Kind und Haushalt – einfach weil es in Deutschland einfacher zu organisieren ist, wenn nur einer von beiden sich auf den Beruf konzentriert und die oder der andere auf die Kinder.

Welchen persönlichen Tipp haben Sie denn, dass das mit der gerechten Aufteilung bei Paaren besser läuft?
Als Politikerin bin ich ja eigentlich nicht für persönliche Tipps zuständig, sondern dafür, die Rahmenbedingungen zu schaffen. Gleichzeitig helfen mir natürlich meine persönlichen Erfahrungen: Ich habe drei Kinder und bin Vollzeit berufstätig und natürlich gibt es auch bei uns zu Hause Diskussionen, wer räumt wann die Spülmaschine aus und wer macht wie viel im Haushalt. Oder, wenn wir beide gleichzeitig Termine haben.

Unsere Kinder wollen wir nicht zusätzlich zur Kita auch abends noch ständig fremdbetreuen lassen. Ich kenne die Stolpersteine und kämpfe deshalb dafür, dass es für Eltern leichter wird, Sorgearbeit gleichberechtigter aufzuteilen. Aber eben gerade die Diskussionen um Spülmaschinen, Wäschewaschen oder wer wann welchen Termin wahrnehmen kann – die wird auch die Abschaffung des Ehegattensplittings und keine noch so gute Reform des Elterngelds auflösen.  

So nervig das ist: Gleichberechtigung muss auch im Privaten immer wieder erkämpft werden. Wir alle sind mit bestimmten Rollenbildern aufgewachsen, und manchmal ist es einfacher, schnell die Wäsche selbst zu machen, statt ewig zu diskutieren.

Aber dann rutscht man schnell doch wieder in die alten, erlernten Muster. Deshalb ist es wichtig ist, dass man sich frühzeitig mit seinem Partner austauscht und immer wieder evaluiert, ob es so läuft, wie beide sich das vorgestellt haben, damit man nicht ungewollt in eine Rolle rutscht, aus der man dann nicht mehr rauskommt – das habe ich zu oft erlebt.

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