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Berlin: Fernreise zum Job

Sie fahren mit dem Zug zur Arbeit – nach Frankfurt oder Braunschweig Aber von Berlin wegziehen, das wollen sie um keinen Preis

Ein Eigenheim im Grünen und täglich zur Arbeit in die City hinein – das ist eine grauenhafte Vorstellung für viele Berliner, die in Mitte oder Prenzlauer Berg leben. Weil aber viele in der Hauptstadt keine angemessene Arbeit finden, suchen sie sich ihre Stelle woanders: in Braunschweig oder Hamburg, Leipzig oder Frankfurt. Diese Long-Distance-Berufspendler – laut Statistischem Landesamt sind über 82 000 jenseits der Landesgrenze erwerbstätig – profitieren von kurzen Reisezeiten. Seit wenigen Wochen erreicht die Bahn Leipzig in 1 Stunde und 15 Minuten. Eine viertel Stunde länger fahren die Züge nach Hamburg oder Braunschweig. Drei Beispiele einer neuen Pendler-Generation.

Der Hardcore-Pendler. Aus Berlin wegziehen? Nein, das kommt für den 36-jährigen Detlef Jessen-Klingenberg nicht in Frage. Für die anderen etwa 30 Mitarbeiter der Architekturfakultät an der TU in Braunschweig gilt dasselbe: „Die pendeln alle“, sagt er. Aber er ist einer der wenigen, die täglich vier Stunden im Zug sitzen: morgens hin, abends zurück. Das macht er seit der Geburt seiner Tochter so. Zuvor teilte er sich mit drei anderen Pendlern eine Zweizimmerwohnung in Braunschweig. „Das war ein Leben wie bei Bauleuten auf Montage“, sagt er. Arbeiten am Tag, abends plaudern und trinken, am Wochenende zurück nach Hause. Das Pendler-Dasein lasse sich bei berufstätigen Paaren heute kaum vermeiden: Denn nur selten bekämen beide einen Job in Berlin. „Und das Pendeln gehört zum Lebensentwurf der Bewohner im Mitte-Prenzlauer-Berg-Ghetto“, sagt Jessen-Klingenberg. Das liege nicht nur am Arbeitsmarkt. Unter seinesgleichen sei außerdem „die Angst vor Westdeutschland riesig“. Niemals würden sie das liberale Leben in Berlin eintauschen gegen das piefige in der Provinz.

Der Business–Pendler. „Alle träumen von einem Projekt in Berlin“, sagt Michael Rath. Er ist Unternehmensberater bei IBM in Berlin. Doch seine Dienste liefert er meistens bei Firmen in Frankfurt, Köln oder Hamburg ab. „Einmal habe ich auch eine Bank in Berlin beraten“, sagt er. Doch das sei die Ausnahme, denn die Wirtschaft biete hier nur wenige Aufträge. Zurzeit ist der Berater in Frankfurt bei einer Telekommunikationsfirma im Einsatz. Er fliegt montags hin und freitags zurück. Hier leben seine Frau und der sechs Monate junge Sohn. Seit sieben Jahren geht das so. Das Gute daran ist die Abwechslung: „Man lernt neue Kollegen und Städte kennen.“ Der Nachteil: „Man ist weder am Einsatzort noch in Berlin so richtig zu Hause“, sagt Rath. Dennoch will die Familie nicht von Berlin weg. Michaels Frau arbeitet hier als Lehrerin. Erst kürzlich haben die Raths eine Wohnung in der Kastanienallee gekauft.

Der Multijob-Pendler. Zu nachtschlafender Zeit, um 4.45 Uhr, schält sich Jürgen Mahrenholz aus dem Bett. Das muss sein, denn der ICE-Sprinter fährt um 6.06 am Hauptbahnhof ab. Und nur wenn er den kriegt, geht es ohne Halt durch bis Frankfurt am Main. Pünktlich um 10.30 Uhr sitzt er dann an seinem Arbeitsplatz: beim „Ensemble moderne“. Für das avantgardistische Orchester, das unter anderem mit den Musikern Frank Zappa und Heinz Stockhausen CDs einspielte, entwickelt Mahrenholz derzeit auf Honorarbasis ein Musik- und Instrumentenarchiv. Mahrenholz bringt Berufserfahrung als Archivar an der Berliner Humboldt-Universität und am Wissenschaftskolleg mit. Doch auch dort arbeitet er in Teilzeit und die Verträge sind befristet. Diese beiden Stellen konnte er nicht für die dritte aufgeben: Denn keiner der Jobs bringt allein genug ein, um davon zu leben. „Das Pendeln ist eine wirtschaftliche Notwendigkeit“, sagt Mahrenholz.

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