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Es müssen nicht immer nur große Töne sein: Das Trio Microtub bewegt sich mit mictrotonaler Tubamusik in den engen Raumen zwischen den Tasten.

© André Løyning/promo

Festival für Neue Musik in Berlin: Beim Monat der zeitgenössischen Musik wird die ganze Stadt zur Spielstätte

Berlin kann ein Klangkörper sein. Wie klingen Geschichte, gesellschaftlicher Wandel und die Stadtreinigung als Musik?

Wenn die Sonne in Prenzlauer Berg aufgeht, war Katrin Emler in der Regel schon einmal wach. Die Künstlerin, bekannt als Katrinem, schläft grundsätzlich bei offenem Fenster, erzählt sie. Wenn aber in Berlin die Stadtreinigung anrückt, um die Straße zu reinigen, wollen alle Luken dicht sein: „Ich versuche stets, schon vor dem Kommen der BSR die Fenster zu schließen“.

Nichts gegen die BSR, aber in Sachen Straßenreinigung hat Emler andere klangliche Vorlieben: „Ich war vor einiger Zeit in Teheran. Jeden Morgen wurde ich auf ein Geräusch aufmerksam: Schwung, Schwung, Schwung – immer wieder dieselbe rauschhafte Bewegung, rhythmisch etwas variiert. Und als ich aus dem Fenster schaute, sah ich einen älteren Herrn, der mit seinem Reisbesen den Gehweg säuberte.“

Es sei ihr, nach etwas Gewöhnung, nicht nur ein beruhigendes Geräusch geworden, sondern auch kompositorisch interessant. Und kulturell: Auch hierzulande wurden die Straßen schließlich einst auf diese Weise gefegt, mit dem charakteristischen Geräusch von über das Pflaster schrubbenden Zweigen. Zurück in die Gegenwart bringt sie dieses kleine klangarchäologische Fundstück in ihrer Komposition „BesenBallett“. Eine unbestimmte Zahl von Performer:innen schwingt dabei unterschiedliche Besenarten, etwa gebundene Reisig-Besen, moderne Elaston-Besen, „blonde Reisbesen“ oder Besen mit Kokos-Fasern.

Alle werden unterschiedlich klingen, wenn sie am 4. September die Kolonnaden der Museumsinsel schrubben. Eine Aktionspartitur, die keinerlei Notenlese-Fähigkeiten voraussetzt, dient dem Stück als Grundlage – das Ensemble wird zufällig aus mitmach-freudigen Anwesenden zusammengesetzt, die Künstlerin selbst dirigiert.

Die Szene für sich sprechen lassen

Katrinems BesenBallett findet im Rahmen des Monats der zeitgenössischen Musik statt. Gegründet von der Initiative für Neue Musik INM im Jahr 2017, geht es alljährlich im September darum, die zeitgenössische Musikszene der Hauptstadt in ihrer Vielfalt abzubilden. Es gebe keinen „großen Kurator“, der alle programmatischen Fäden in Händen hielte, erzählt Lisa Benjes von der INM.

„Wir haben stattdessen den Anspruch, zu finden, was die hiesige Szene gerade umtreibt und vereint – und sie für sich sprechen zu lassen.“ So würde der thematische Überbau quasi von unten her gebildet, von der Szene selbst. In der aktuellen Ausgabe geht es um Wechselwirkungen zwischen der Stadt und der Musik – was macht die eine mit der anderen und vice versa?

Patrick Klingenschmitt etwa, Dramaturg des Projektes Urban Morphologies, das am 1. September im Silent Green Kulturquartier uraufgeführt wird, hat sich dafür auf die Straße begeben und mit Passant:innen gesprochen. „Ich habe die Leute gefragt, wie sie sich die Stadt der Zukunft vorstellen, bin in verschiedene Bezirke gefahren – von Neukölln über Charlottenburg, Mitte, Pankow bis Gropiusstadt.

Und ich habe wirklich versucht, kontroverse Meinungen einzufangen, habe zum Beispiel Taxi- und Busfahrer angequatscht, weil ich dachte, die hassen bestimmt Fahrräder – aber selbst die haben gesagt, sie hätten gerne besser ausgebaute Radwege, eine bessere Organisation des Verkehrs, mehr Grün, weniger Verkehr und so weiter“.

Utopien? Fehlanzeige.

Der Berliner Kanon sei zwischen grünen und, vor allem zum Stadtrand hin, sozialen Themen oszilliert, sei aber insgesamt überraschend homogen gewesen – „auch wenn ich davor warnen muss, diese Gespräche als repräsentative Studie misszuverstehen“, betont er. Auffällig findet er zudem, dass Zukunft in den Köpfen der Befragten nur einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren zu umfassen scheint.

„Utopien oder große Visionen: Fehlanzeige. Aber wenn es doch einmal über diese kurzen Zeiträume hinausgeht, wird es ganz schnell dystopisch.“ Alle Gespräche, erzählt Klingenschmitt, habe er aufgezeichnet, die Komponistin Katharina Rosenberger habe sie zu O-Ton-Collagen verarbeitet, die im Stück über Lautsprecher zugespielt werden. Seine Kolleg:innen haben dasselbe auch in Basel und Los Angeles gemacht, wo Urban Morphologies in den nächsten Monaten ebenfalls aufgeführt werden soll.

Die kompositorische Idee Katharina Rosenbergers ist ein Stück, das, wie die Stadt, niemals fertig wird, sondern einem immer weiter voranschreitenden Transformationsprozess unterliegt. Da es von Mal zu Mal anders klingt, bezeichnet sie jede Aufführung als „Issue“ oder Ausgabe.

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Auf visueller Ebene tut dies auch Videokünstlerin Bettina Kuntzsch, die Urban Morphologies um Projektionen erweitert, das Berliner Ensemble Mosaik spielt Rosenbergers Partitur. Aufgebaut wird es nicht als Frontalkonzert, sondern als Konzertinstallation bei der das Publikum verschiedene Hörstationen im Betonbau des Silent Green durchschreiten kann – wie in einem mehrstimmigen Kiez.

Das Durchschreiten von tatsächlichen Kiezen in Form von Hörspaziergängen ist ein weiterer Programmpunkt des Festivals. Über die ganze Stadt sind Hörstücke verschiedener Komponist:innen und Soundkünstler:innen verteilt – über QR-Codes vor Ort können Passant:innen auf die Audiodateien zugreifen, eine spezielle App ist dazu nicht nötig.

Zu hören sind Aufnahmen aus vergangener Zeit, Anleitungen für Rundgänge, Hörspielhaftes und Kompositionen, die dazu gemacht sind, mit ihren jeweiligen Umgebungen zu korrespondieren.

Der libanesische Freigeist Raed Yassin. An gegenüberliegenden Spreeufern lässt er eine Imamin aus Aleppo Koranverse singen.
Der libanesische Freigeist Raed Yassin. An gegenüberliegenden Spreeufern lässt er eine Imamin aus Aleppo Koranverse singen.

© promo

Zu hören sind Stücke von unter anderem von Matana Roberts, Kirsten Reese & BAM!, Michael Hirsch, Tomomi Adachi, Andrea Parkins und Raed Yassin. Letzterer sprengt vielleicht am auffälligsten den Berlinbezug, indem er mit seinen zwei korrespondierenden Stücken „Imama of Dusk“ und „Imama of Dwan“, an gegenüberliegenden Spreeufern vor der East Side Gallery Koran-Rezitationen einer Frau erklingen lässt. „Ich bin vor einiger Zeit in Aleppo über diese seltenen Aufnahmen gestolpert, habe sie nachbearbeitet und elektronisch verfremdet“, erzählt er.

An den beiden Spreeufern gehört, idealerweise bei Sonnenauf- oder Untergang, entfalten sie ihre transformierende Kraft und erinnern an die Ausgangsfrage des Festivals: Was macht die Musik denn nun mit der Stadt? Hier lässt sie sie jedenfalls eine ganz andere werden.

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