zum Hauptinhalt
Musik zum Diner. Im Hotel „Reichshof“ an der Wilhelmstraße unterhält das Salonorchester Pepe Károly 1904 die Gäste mit ungarischen Weisen. Besonders der Stehgeiger Jansci Rigó (2 v. l.) bringt die Damen zum Träumen.

© Berliner Leben/Zander & Labisch

Fraktur! Berlin-Bilder aus Kaiserzeit: Mit dem Stehgeiger durchgebrannt

Im Hotel Reichshof an der Wilhelmstraße spielt der Stehgeiger Jancsi Rigó 1904 ungarische Weisen zum Diner. Eine wilde Liebesaffäre mit einer Prinzessin hat ihn berühmt gemacht.

Musik liegt in der Luft, so viel Musik. Die Reichshauptstadt erklingt und tönt in allen denkbaren Arrangements und Stilrichtungen. "Eine Berliner Tageszeitung, die ich gerade aufschlage, enthält 89 Konzert-Annoncen", notiert der Autor Erich Kloss im Januar 1905 in der "Neuen Zeitschrift für Musik" und sieht die "Berufs-Rezensenten" in den "Wellen der Musik-Hochflut" untergehen. Klavierabend, Streichquartett, Gesangvereine, Kirchenchöre, Tanzkapellen, Sinfonie-Soireen, Revue im Metropol, Offenbach im "Theater des Westens", Caruso im "Rigoletto", Zitherklänge in der Weinstube… "Selbst gegessen wird in Berlin nur noch mit Musik", schreibt Kloss, "glücklich der, welcher einen Ort findet, wo er sein Filet ohne Musikbegleitung verzehren kann".

Im Hotel "Reichshof" an der Wilhelmstraße 70 a, gleich neben der britischen Botschaft, würzt das Salonorchester Pege Károly Speisen und Getränke mit ungarischen Weisen, wochentags ab halb acht zum Diner, an Sonn- und Feiertagen bereits vorzeitig zum Fünf-Uhr-Tee. "Zigeunermusik" steht auf dem Programm. Und das Auge hört mit. Vor allem die Blicke der Damen richten sich auf den Geiger Jancsi "Johnny" Rigó. Auf dem Foto aus der Zeitschrift "Berliner Leben" vom November 1904 steht er als Zweiter von links mit der Violine in der Hand, dem Instrument, mit dem er sich wenige Jahre zuvor in das Herz der Prinzessin von Caraman-Chimay und in die Klatschspalten der Weltpresse spielte. Unvergesslich bis heute bleibt Rigó Jancsi (der Familienname nach ungarischer Art vorangestellt) durch die gleichnamige Süßspeise. Aber das Dessert kommt zum Schluss.

Der "Zigeunerprimas" und die amerikanische Millionärstochter - was für eine Affäre!

Rückblende, Paris 1896: Rigó spielt in einem noblen Restaurant, in dem auch der belgische Adlige und Fechtsportler Marie Joseph Anatole Élie de Riquet de Caraman, Prinz von Chimay, verkehrt. Als der Fürst eines Abends hier mit seiner Gemahlin Clara diniert, verfällt die 23-Jährige den seelenbetörenden Violinklängen des "Zigeunerprimás" und seinen schwarzen Augen. Noch im Lokal soll Prinzessin Clara von Caraman-Chimay ihren Diamantring abgestreift und auf Rigós kleinen Finger geschoben haben. Anschließend brennen die beiden miteinander durch.

"Gone with a gypsy", titelt am 24. Dezember 1896 die Zeitung "Ludington Record" in Michigan, USA. Von dort stammt die Prinzessin mit dem bürgerlichen Namen Clara Ward ursprünglich. Die Tochter des millionenschweren Dampfschiffbetreibers, Silberminenbesitzers und Stahlfabrikanten Captain Eber Brock Ward ist so etwas wie das It-Girl der Belle Époque. Ihre Hochzeit mit dem belgischen Fürsten macht sie 1890 zunächst zur "Princess of America" – und die Affäre mit Jancsi Rigó schließlich zur femme fatale. Der gehörnte Prinz von Chimay lässt sich sofort von Clara scheiden. Die wilde Romanze der Ex-Prinzessin mit dem Stehgeiger unterhält die Zeitungsleser und inspiriert die Künstler. Henri de Toulouse-Lautrec fertigt eine Lithographie von Clara und Rigó, Postkarten mit dem Motiv des Liebespaares zirkulieren.

In der Ehe hat das Paar weniger Erfolg, sie scheitert nach kurzer Zeit, angeblich, weil Rigó untreu wird. Clara tingelt danach mit Schaustellern durch Europa, arbeitet als Fotomodell und Tänzerin. Zweimal noch heiratet sie, zuletzt einen Eisenbahnvorsteher am Fuße des Vesuv. Jancsi Rigó bleibt der Geige treu – und wird, wir kommen endlich zum Dessert, verewigt von einem Budapester Patissier, der einen mit Schokoladenmousse gefüllten Biskuitkuchen nach ihm benennt. Süßer Verführer.

Alle Beiträge unserer Serie mit Berlin-Bildern aus der Kaiserzeit lesen Sie unter: www.tagesspiegel.de/fraktur

Folgen Sie dem Autor auf Twitter:

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false