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Berlin: Frank Eberhardt, geb. 1931

Als er in einer Kreuzberger Kneipe mit seinen Freunden aß, hing da dieser Plan an der Wand. Eine Straßenkarte vom alten Berlin, und einer sagte: "Mensch, man müsste mal rauskriegen, was es damals in den Straßen für Geschäfte gab.

Als er in einer Kreuzberger Kneipe mit seinen Freunden aß, hing da dieser Plan an der Wand. Eine Straßenkarte vom alten Berlin, und einer sagte: "Mensch, man müsste mal rauskriegen, was es damals in den Straßen für Geschäfte gab." Frank Eberhardt zuckte mit den Schultern. "Na, da gehst du einfach in die Staatsbibliothek und schaust in den Adressbüchern nach."

Frank Eberhardt wohnte in Ost-Berlin, Bezirk Mitte in der Köpenicker Straße. 1990 konnte er sie das erste Mal komplett entlang gehen, diese Straße, die bis dahin drei Ecken von seinem Haus entfernt mit einer weiß getünchten Wand im Nichts endete. Und zwei Kilometer dahinter, in Treptow als Puschkinallee aus dem Nichts wieder auftauchte. Wenn man heute durch die Köpenicker Straße und ein kleines Stück weiter läuft, gelangt man vom Osten in den Westen und wieder in den Osten, obwohl man einfach nur geradeaus geht.

Das faszinierte Frank Eberhardt. Er ging in die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz, in das Stadtarchiv in Mitte, durchwühlte die Regale des Berliner Bildarchivs in Tiergarten und fragte im Schöneberger Landesarchiv den Angestellten Löcher in den Bauch. Er blätterte in alten Adress- und Telefonbüchern, schaute sich Karten an, las verstaubte Magistratsbeschlüsse und fand Fotos. Frank Eberhardt wurde ein Geschichts-Detektiv. Wenn er ein historisches Foto nicht fand oder ihm der Name einer umbenannten Straße entfiel, raufte er sich die Haare.

Was er herausbekam, notierte er auf grünen, gelben und rosafarbenen A5-Karteikarten. Zum Beispiel seine Erkenntnisse über den Victoriahof in der Köpenicker Straße, von seiner Wohnung aus ein Karree weiter: Neue Fenster hat das fünfstöckige Haus, neue Büros in den Fabriketagen; eine graue Sandsteinfassade, ein grauer Bau.

Nicht für Frank Eberhardt. Irgendwann muss er vorbeigelaufen sein und "Mensch, was ist denn das hier" gedacht haben. Und er hat nachgeguckt: Ein Hersteller von Musikboxen, eine Hutfabrik, eine Röhrenhandlung, ein Gürtler, eine Waffenfabrik, eine Lederzurichterei, der Photograph C. Marisal - das waren die Mieter des Baus mit den vielen Werkhallen im Jahr 1900. So steht es jetzt in kleiner, gedrungener Kugelschreiber-Schrift auf einer gelben Karteikarte. Zehn Jahre später kam eine Anlage zur "Zitronenverwertung" dazu. Auch eine Selterswasser-Fabrik hatte den Betrieb aufgenommen - klirrende Kisten mit kühlen Getränken verließen im Sommer den Hof. In den zwanziger Jahren folgten ein Konfitüren-Macher, ein Filzschuh-Fabrikant, ein Billardtisch-Zimmerer und die Straußenfedern-Fabrik Königsberger. 1938 verschwand die Werkstatt für die bunten Kunst-Straußenfedern, und eine Uniformschneiderei zog ein. So viel konnte Frank Eberhardt mit Hilfe alter Adressbücher rauskriegen.

Zusammen mit anderen Stadtgeschichtsforschern gründete er 1990 den "Bürgerverein Luisenstadt". Dessen Ausstellungen und Vorträge erinnern an die Geschichte des Viertels, durch das die Mauer verlief. Wohl deshalb ist der Name "Luisenstadt" in der Nachkriegszeit zwischen Kreuzberg und Mitte abhanden gekommen. In dem Verein arbeiten Ost-Berliner und West-Berliner, DDR-Kommunisten gemeinsam mit einem West-Pfarrer und mit Bürgerrechtlern .

Wenn Frank Eberhardt nach Hause kam, lag links gleich das Arbeitszimmer: sein Schreibtisch, seine Regale. Voll mit Büchern, Dokumenten, Papierstapeln. Seine Lexika sind zerlesen. Zum Wohnzimmer war es viel weiter, das war erst hinten rechts. Seine bunten Karteikarten sind in Klarsichthüllen sortiert.

Manchmal griff er sich einen Stapel, und dann machte er eine Stadtführung. Auf öffentlichen Fußwanderungen, mit seinen bunten Karten in der Hand, erzählte und zeigte Frank Eberhardt, was er so erfahren hatte. Bei der Tour "Von Kirche zu Kirche" sprach er über Religionen in der Luisenstadt, er ging "Links und rechts des Landwehrkanals" entlang oder "Rund um den Mariannenplatz".

Und natürlich durch die Köpenicker Straße. Eine Linie auf dem Plan zeigt die Fußtour: geradeaus. Es geht vorbei am ehemaligen Heeres-Proviant-Amt, einem Backstein-Bau mit den gemauerten Bögen, wo Berlin im ersten Weltkrieg Brot für die Soldaten bunkerte. Gleich daneben, in Richtung Stadtmitte, steht die "Kleine Berliner Kochstube", ein Imbiss mit Zille-Bildern an der Wand, wo es für zwei Mark eine richtige Dampfwurst gibt oder einen Schusterjungen. Ein paar Häuser weiter links: In den Speichern am Spreehafen ließen die Nationalsozialisten ihrer Meinung nach "entartete" Kunst einlagern. 1939 verbrannten sie die Grafiken, Gemälde und Plastiken. Weiter geht die Tour zum Engeldamm. Asphaltierte Löcher im Straßenpflaster zeigen, dass hier die Betonteile der Mauer verankert waren. Nebenan: Das Grundstück Köpenicker Straße 40, wo die Norddeutschen Eiswerke 1896 weltweit zum ersten Mal Lebensmittel mit Kälte konservierten.

Und schließlich geht es zu dem Haus, in dem es die Uniformschneiderei nicht mehr gibt, zum Victoriahof. "Wissen Sie, warum die Steine im Hinterhof weiß glasiert sind?", fragte Fußtour-Führer Frank Eberhardt hier seine Zuhörer. Und er erzählte die Geschichte, die die Steine erzählen: Weiß sind sie, damit es hell wurde in dem engen Schacht. "Schauen Sie sie mal an", sagte Eberhardt hier, "sehen Sie was?" Im Erdgeschoss ist das Weiß der Steine vergilbt und rissig, in den ersten zwei Etagen nur noch an ein paar Stellen, weiter oben sind die Steine neu. "Die Hälfte des Hauses war weggebombt", erzählte er dann. Dann die ganze Geschichte: Aufbaustimmung in den Fünfziger Jahren, davor die Bomber über Berlin, noch früher die Uniformschneiderei ... Wer der Erzählung mit der Fantasie des Geschichtsbegeisterten folgte, verspürte in dem kargen, stillen Innenhof vielleicht ein leises Klirren - das der Flaschen aus der Selterswasser-Fabrik.

Christian Domnitz

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