zum Hauptinhalt
Anonym ist anders: Jeder kann „seine Botschaft“ mit der Schleuder an die Fassade werfen. So jetzt auch in Peking in einer Fußgängerzone.

© promo

Freie Meinungsäußerung: Sendungsbewusstsein

Das Projekt SMSlingshot bringt Menschen dazu, ihre Meinung in den öffentlichen Raum zu „werfen“.

Das Gerät sieht nach Steinzeit aus, aber nach einer, in der die Benutzer bereits Kurznachrichten versenden konnten. Die Schleuder, die von ihren Erfindern den Namen SMSlingshot bekommen hat, ist ein hölzernes Ypsilon, in das allerdings eine Tastatur eingebaut wurde. Im Bauch der Schleuder sorgt ein Laser dafür, dass die eingetippten Sätze wie virtuelle Farbkleckse an Fassaden geworfen werden können. Die Nutzer haben 140 Zeichen zur Verfügung. Die Botschaften, die sie formulieren, sind emotional, politisch, manchmal auch schlicht banal.

Oder, wie es Christian Zöllner beschreibt: „Es gibt Schmusebotschaften, Liebesbotschaften oder härtere Ansagen wie den vor einem Jahr gesendeten Satz: ’Fuck Mursi I want Mubarak back’“. Das zeige, wie bunt und widersprüchlich die Gesellschaft sei. Zöllner und seine Mitstreiter haben alle Varianten zu sehen bekommen, seit sie vor einigen Jahren diese Idee hatten: ein Gerät zu designen, mit dem sich Sätze per Laser an Fassaden werfen lassen.

An Häuserwände, die sich immer häufiger in gigantische Werbetafeln verwandeln, in überdimensionale Bildschirme, auf denen Dauerwerbesendungen laufen. Und die man – im Vergleich zur Vorgängergeneration der riesenhaften Plakate – nun beim besten Willen nicht mehr ignorieren kann. Durch die Schleuder sollen die Fassaden sozusagen zurückerobert werden, der öffentliche Raum soll Platz für die eigene Meinung machen, und natürlich auch für die der anderen.

Eigene Meinung als Farbklecks mal an die Wand schleudern

Die Gruppe, in der die Schleuder erfunden wurde, nennt sich VR/Urban, ihre Mission sind „Independent Urban Media Corrections“. Die Macher selbst beschreiben sich als „Korrektiv“. Sie haben VR/Urban 2008 gegründet. Ende Mai werden zwei von ihnen die SMSlingshot und andere Arbeiten in der Deutschen Botschaft in Peking vorstellen.

Die Texte sind emotional, hochpolitisch - und manchmal auch einfach banal.
Die Texte sind emotional, hochpolitisch - und manchmal auch einfach banal.

© promo

Der Produktdesigner Christian Zöllner hat die Schleuder 2013 schon einmal in China präsentiert, in Shenzhen. „China ist ein spannendes Pflaster, es hat uns dort sehr gut gefallen“, sagt er. Viele Vorurteile hätten sich nicht bestätigt, die Besucher hätten positiv und offen auf das Instrument reagiert. SMSlingshot ist für die Macher ein Werkzeug zur freien Meinungsäußerung, eine Möglichkeit, die eigene Meinung ungefiltert an die Wand zu werfen.

Der eingetippte Text wird durch das Spannen der Schleuder auf den Weg gebracht, das den Laser aktiviert. Und die Nachricht an die Fassade wirft, als würde jemand Farbe auf das Gebäude schmeißen. Die Geste – und natürlich auch der Farbklecks – sind so expressiv, dass sich die Menschen nicht hinter dem Sendevorgang verstecken können. Das Schleudern ist also das Gegenteil von dem, was viele lieber tun: verstohlen unter der Bank eine fiese Meinungsäußerung in die Welt entlassen, die ihnen später nicht zugeordnet werden kann.

VR/Urban geht es um Verbindlichkeit, um eine eindeutige Interaktion zwischen Sendern und Empfängern. Die anderen können auf die Botschaften reagieren, sodass an den Wänden ein Dialog zwischen den abgeschickten Meinungen entsteht. Oder die Leser den jeweiligen Verfasser einfach persönlich ansprechen. In dieser Situation muss der Autor dann für seine Meinung einstehen. „Wer Quatsch eintippt, muss das später auch rechtfertigen, denn er wird direkt mit seiner Mitteilung in Verbindung gebracht“, sagt Christian Zöllner.

Die Werbewirtschaft würde sich die Idee gerne krallen

Auch das steht im Widerspruch zu den vielen inhaltsleeren Nachrichten, die etliche Nutzer am Smartphone oder Computer einfach deshalb erzeugen, weil es eben technisch möglich ist. „Act wise, think twice“, schreiben VR/Urban auf ihrer Webseite. Man solle sich schon ein bisschen überlegen, was man da in die Welt hinausschickt. Auch wenn das so einfach geht und nur ein paar Sekunden dauert.

Eingesetzt haben die Erfinder ihre Schleuder unter anderem in Brasilien, Lettland, Frankreich und auch in den USA, im Museum of Modern Art in New York. Vor einem Jahr waren sie in Kairo. Auch dort haben Menschen ihre Meinungen „geschleudert“, die politisch ganz und gar gegensätzliche Positionen vertraten.

Kaufen kann man die SMSlingshot nicht. Wer eine ähnliche Aktion plant, muss die Erfinder dazu einladen. Die Zahl der Schleudern ist beschränkt, auf den Veranstaltungen wechselt man sich mit dem Senden ab und wartet aufeinander. Auch das ist in einer Zeit, in der es kaum noch Telefonzellen, geschweige denn Schlangen vor Telefonzellen gibt, für viele Teilnehmer eine ungewöhnliche Erfahrung. Mit der Schleuder haben VR/Urban bei vielen, die sie ausprobiert haben, ein verstärktes, nun ja, Sendungsbewusstsein geschaffen. Für ihre Erfindung interessieren sich längst auch jene, gegen die sich die Aktion eigentlich richtet: Die Werbewirtschaft.

Eine solche Kooperation lehnen VR/Urban strikt ab, das gehört auch zu den ersten Hinweisen auf ihrer Homepage. Die Anfragen hören trotzdem nicht auf. Die Werbewirtschaft ist hartnäckig, und sie findet das Instrument wahrscheinlich einfach zu gut. Und das ist für die Macher ja irgendwie doch wieder ein Kompliment – auch wenn sie den öffentlichen Raum weiter mit der Schleuder verteidigen werden.

Weiteres im Internet: http://theconstitute.org/the-smslingshot/

Zur Startseite