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Friedlicher 1. Mai: Radikale Linke sucht Bodenhaftung

Die Revolution ruht: Nach dem relativ friedlichen 1. Mai wundern sich Beobachter über das Schweigen der Kapitalismuskritiker.

Ganz genau wissen nur die Sicherheitsbehörden, wie dieser 1. Mai zu deuten ist. Dass er so friedlich wie lange nicht verlaufen ist, zeigte sich zwei Tage danach an der Zahl der Haftbefehle. 14 waren es in diesem Jahr, alle wegen schweren Landfriedensbruch oder gefährlicher Körperverletzung. Zehn der 14 Festgenommenen wurden von der Haft verschont. 2010 waren 32 Haftbefehle verhängt worden, 2009 sogar 46.

Was die relative Friedlichkeit für die linke Szene bedeutet, ist nach dem Doppelschlag von Walpurgisnacht und Revolutionärer 1. Mai-Demo völlig unklar. Auf den einschlägigen Internet-Plattformen hat noch keine Diskussion über den Auftritt der diversen linken Gruppen begonnen. Allein der seltsame Auftritt einer Hells-Angels-Rotte auf dem Kreuzberger Myfest hat ein paar Kommentare provoziert – doch der politische Anspruch der linken Szene wird beschwiegen. Zwar erwarten die Beobachter radikaler Linker beim Verfassungsschutz, dass eine Diskussion noch kommen wird, wie Sprecherin Isabelle Kalbitzer sagt. Doch das Schweigen erstaunt die Experten – zumal es einiges zu bereden gäbe.

Denn radikale Linke hatten in ihren Aufrufen vor dem 1. Mai versucht, nicht bloß mit Großbegriffen den Klassenkampf voranzutreiben. Man gab sich geradezu bürgernah. Zu lesen waren Formulierungen wie „gegen die kapitalistische Zurichtung“ der Innenstädte und Sätze wie „Die Bezirke sollen attraktiv für zahlungskräftige Klientel gemacht werden. Menschen, die dabei nicht ins Bild passen, sollen verdrängt werden“. Anders gesagt: Die linken Klassenkämpfer stellten sich als Anwälte der neuen und alten Armen und Arbeitslosen in den Innenstadt-Kiezen dar. Weniger Großkonflikte – mehr Stadtpolitik: Darin sehen die Verfassungsschützer so etwas wie eine Strategie der radikalen Szene.

Mehr Politik bedeutet nicht unbedingt weniger Gewalt. Doch der Angriff auf eine Polizeiwache mit einem Brandsatz vor ein paar Wochen hat in der Szene offenbar so wenig Verständnis gefunden, dass es derzeit weniger Radikale gebe, die „Lust auf Krawall“ haben. Das vermutet Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Vielleicht habe sich die Erkenntnis ausgebreitet, dass Gewalt viele verschrecke, die ansonsten mit den Zielen der Linken, mit der Kritik an Gentrifizierung etwas anfangen können.

Womöglich herrscht auch in der in viele Gruppen zersplitterten linken Szene einfach Unübersichtlichkeit: Gewalt kommt nicht an, die großen Begriffe sind seit Jahren dieselben, symbolische Großprojekte wie Mediaspree, gegen die man sein könnte, werden nicht mehr diskutiert, sondern langsam verwirklicht. Wenn es diese strategische Unsicherheit geben sollte, bedeute sie nicht, dass die radikale Linke ihre Mobilisierungskraft verloren habe, sagt Benedikt Lux. Acht- bis neuntausend Demonstranten bei der 1.Mai-Demo – das seien so viele wie im Jahr zuvor gewesen.

Schnell könnte die Szene neue Feindbilder finden – vorausgesetzt, Diskussionen wie die über Verdrängung, steigende Mieten, soziale Entmischung und prekäre Lebensverhältnisse geben solche Feindbilder her. Franz Schulz, grüner Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, glaubt nicht, dass die linken Kapitalismuskritiker an Elan verloren haben. Er sieht die Szene in einem „Suchprozess“ – und seine Analyse ähnelt der der Verfassungsschützer: Radikale Gruppen und Initiativen versuchten, so nimmt Schulz deren Bemühungen wahr, ihre kapitalismuskritische Politik auf eine breitere Basis zu stellen: Antikapitalismus im Sinne der Armen sozusagen. Dass es dabei zu neuen Bündnissen kommt, hat Schulz aber noch nicht beobachten können. Werner van Bebber

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