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Das nennt man dann wohl Kunst. Fußgänger jubeln ("Cool!") oder haben gleich wohlmeinende Ratschläge für Künstler Thomas Plattner parat ("Häng dich gleich dazu!").

© Thilo Rückeis

Berlin: Früher war mehr Lametta

Endlich ist der neue Weihnachtsbaum am Breitscheidplatz da – und wieder gibt er Anlass zum Streiten.

Mit den Weihnachtsbäumen auf dem Breitscheidplatz gibt es jedes Jahr Ärger. Zu dünn, zu mickrig, oder mit abgebrochener Spitze. Diesmal steht der Baum wie eine Eins, kein Ast regt sich, die Kerzen brennen auf Handzeichen, und der Christbaumschmuck besteht aus lang haltenden deutschen Markenprodukten. Ein Tourist aus Großbritannien steht andächtig vor dem „Traffic Tree“ und murmelt etwas unsicher: „It’s different“. Anders eben, als er einen deutschen Weihnachtsbaum bisher kannte.

Erschaffen wurde die zwölf Meter hohe Altstofftanne von einer Künstlergruppe um den Straßentheaterverein „Berlin lacht“. Der veranstaltete vor einigen Jahren einen Kulturweihnachtsmarkt und suchte nach einer konsumkritischen Hauptdekoration. „Wir wollten keinen Baum fällen“, sagt Berlin-lacht-Sprecher Thomas Plattner. So entstand die Idee für die lamettafreie Altmetallkonstruktion um einen ausrangierten Hebeliftkran.

Der Baum wurde anschließend eingemottet und wäre es weiterhin, wenn die Gedächtniskirche nicht saniert würde. Dort steht normalerweise die umstrittene Weihnachtsfichte, 25 Meter hoch, in der Regel ein Geschenk aus Bad Tölz. Schon im vergangenen Jahr versperrte das Baugerüst den Baumstellplatz, als Ersatz wurde ein weißer Lichtkegel am Wasserklops errichtet, und die Berliner beschwerten sich über den disneyhaften Frevel an der deutschen Weihnachtskultur.

Der Traffic Tree bohrt weit tiefer in die Heileweltpracht der Adventszeit. Er kann als Anklage gegen die Wegwerfgesellschaft, als Aufforderung zur tätigen Reue nach Jahren des ungehemmten Geschenkeshoppens gelesen werden. Da hängt eine abgehalfterte Miss-Piggy-Puppe neben einem alten Fahrradreifen, ein Barhocker schwebt auf gleicher Höhe mit einem Karusselpferd. Ein alter Koffer mit der Aufschrift „Luftschutzapotheke“. An der Spitze eine ausgefranste Drahtfigur. Das ist der Engel.

Thomas Plattner erzählt mit sanfter Stimme von der polarisierenden Kraft seines Christbaums. Die Besucherkommentare reichten von heller Begeisterung bis zum Satz: „Hängt euch doch gleich dazu.“ Wie zur Bestätigung haben sich zwei Damen aus Wilmersdorf aufgestellt, in demonstrativer Empörungspose. „Eine Vergewaltigung fürs Auge!“, entrüstet sich die eine. Als Berlinerin sei ihr das peinlich. Es liege schon genug Müll auf der Straße, da könne man wenigstens die Weihnachtsbäume sauber halten.

Ein Mädchenquartett aus einem Braunschweiger Gymnasium war gerade bei Beuys im Hamburger Bahnhof, um die „Ästhetik des Fragmentarischen“ zu studieren. Der Baum passt da perfekt zum Thema. Nele, 16 Jahre alt, findet das steife Ding einfach „cool“.

„Wir wollten mal was Verrücktes machen“, erklärt Michael Roden vom Schaustellerverband, der den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche betreibt. Mit dem Unverständnis vieler älterer Berliner kann er leben. Ist ja eine einmalige Sache. Im nächsten Jahr soll wieder eine echte Tanne Weihnachtsstimmung verbreiten.

Der Traffic Tree ist vom TÜV abgenommen. Aufrecht halten ihn vier mit Seilen verstrebte Wassertanks, die das Gesamtgewicht auf sieben Tonnen erhöhen. „Der ist für Windzone 2 zugelassen“, sagt Plattner. Aus 1000 Einzelteilen sei der Metallbaum zusammengesetzt. Anders als an den meisten Naturtannen brennt noch echtes Feuer am Traffic Tree. Wie von einem Keyboard betrieben, stoßen die Gasbrenner-Kerzen nach vorgegebenem Rhythmus Flammenwülste aus. Das erinnert an die Metallwerkstätten des Kunsthauses Tacheles und das feuerspuckende Ungetüm im Café Zapata. Feuer und Stahl, die Elemente der Schmiedekunst, verschmolzen zum Sinnbild des Weihnachtsfestes. Eine weitere Berliner Sensation, ausgestellt noch bis Neujahr.

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