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Berlin: Früherer Stasi-Oberstleutnant berät Stasi-Opfer

In der DDR war er Abteilungsleiter im Ministerium für Staatssicherheit, heute arbeitet er für den Sozialverband Deutschland. Und berät dabei möglicherweise auch Menschen, die er früher bespitzeln ließ.

Werner Schultze (Name geändert) zählt zu den wichtigen Mitarbeitern im Sozialverband Deutschland: Denn er berät Rentner und zieht im Einzelfall sogar vor Gericht zur Durchsetzung von Ansprüchen. Michael Wiedeburg, Beisitzer im Bundesvorstand des Sozialverbandes, bricht eine Lanze für Schultze. Er sagt: „Gerade im Bereich von DDR-Rentenansprüchen hat er beachtliche Erfolge aufzuweisen“ – der hochgewachsene Mann mit dem kräftigem Händedruck stellt sich vor Schultze, den hoch dekorierten früheren Oberstleutnant aus dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR.

Mehrmals in der Woche hat Werner Schultze Sprechstunden. Jurist nennt er sich. Diesen Titel verlieh ihm 1984 die Stasi-Hochschule in Potsdam. Bei der Stasi stieg Schultze zum Abteilungsleiter auf, wenige Dienstgrade unterhalb der Generalität. Und weil er ein ganzes Netz Inoffizieller Mitarbeiter führte, könnte es heutzutage dazu kommen, dass ihm ein Opfer seiner früheren Tätigkeit gegenüber sitzt – ohne davon zu ahnen. Vielleicht setzt Schultze aber auch Renten-Ansprüche früherer Stasi-Kader durch – die dürften dagegen genau wissen, mit wem sie es zu tun haben.

Ob frühere SED-Opfer dem kampfsporterprobten Tschekisten vertrauen würden? Eva Stollberg (Name geändert), die drei Jahre in DDR-Haft, davon zwei Jahre im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck saß, sagt: „Nein, und eine solche Konfrontation ist Menschen auch nicht zuzumuten.“ Bis Ende 2007 arbeitete auch Stollberg ehrenamtlich für den Sozialverband: Sie beriet SED-Opfer. Ende 2004 hörte sie von Gerüchten, Schultze sei Stasi-Mitarbeiter gewesen. Sie forschte nach, bekam einen Hinweis auf dessen „juristische Abschlussarbeit“, schilderte dem Vorstand des Sozialverbandes den Fall – erhielt aber nur ausweichende Antworten. Im Januar stellte sie Mitarbeiter Schultze selbst zur Rede. „Der hat seine Stasi-Mitarbeit eingeräumt“, sagt Stollberg, habe aber von einer „ganz normalen Tätigkeit“ gesprochen. Darauf trat sie aus dem Verein aus.

Wiedeburg schreibt auf Anfrage: „Die von Frau Stollberg vorgetragenen Anschuldigungen haben einer Prüfung nicht standgehalten.“ Auch seien „keine arbeitsvertraglichen Pflichtverletzungen des Mitarbeiters“ bekannt.

Dass Schultzes Vergangenheit im SED-Staat problematisch sein könnte, dafür hatte ein ehemaliger Geschäftsführer beim Sozialverband, der den früheren Stasi-Oberstleutnant einstellte, keinen Hinweis. Schultzes Bewerbung habe keine Spuren von einer Stasi-Karriere enthalten: „Er hatte ein Zeugnis vom Innenministerium und war dort angeblich für Chiffrierung zuständig“, sagt Burkhard Präg. Er habe Schultze eingestellt, „weil wir einen Juristen brauchten“, sagt er. Dass dieser an der Stasi-Hochschule Potsdam studiert und die Arbeit mit den Rechtsnormen eines Rechtsstaates wenig zu tun hatte, wusste Präg nicht. „Sonst hätten wir ihn sicher nicht eingestellt“, sagt er. Schon eine NVA-Karriere sei damals ein Ausschlusskriterium gewesen.

Schultze machte nicht nur in der NVA, sondern auch bei der Stasi Karriere. Das geht aus Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen hervor, die dem Tagesspiegel vorliegen. Eine umfassende „Handakte“ enthält Berichte über Bespitzelungen von Freund und Feind, eine voluminöse „Aktenmappe“ Lobeshymnen seiner Vorgesetzten und Schultzes „Diplomarbeit“, „Vertrauliche Verschluss-Sache“ der DDR, enthält seine persönlichen Vorschläge zur Bekämpfung von Regimekritikern.

Ein Blick in die juristische Abschlussarbeit macht deutlich, warum NVA und DDR-Geheimdienst ihn mit Auszeichnungen überhäuften: In markigen Worten geißelt er die wachsende Zahl der Regimekritiker etwa in Kirchenkreisen. Er fordert die „Abwehr und Zerschlagung aller Angriffe“ dieser Gruppen. Schultze sieht hier eine „Konzentration negativer Kräfte“, und er zählt unterschiedslos auf: „Haftentlassene, Asoziale, Personen, die versuchen, eine Übersiedlung in die Bundesrepublik oder nach Westberlin zu erreichen“. Um „rechtzeitig ausreichend inoffizielle Informationen zu erarbeiten“, fordert Schultze die „gezielte Erweiterung des Bestandes Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit in den gegnerischen Zielgruppen“.

Die Theorie setzte Schultze selbst in die Praxis um: „Genosse Schultze steuert ein umfangreiches inoffizielles Netz“ und hat deshalb „persönlich wesentlich Anteil daran, dass die Sicherheit und Ordnung in seinem Verantwortungsbereich weiter erhöht werden“, loben ihn Vorgesetzte. Wie IMs zu führen sind, wusste Schultze aus Erfahrung: Er wurde Ende 1971 beim MfS aufgenommen, nachdem er knapp zwei Jahre lang als Inoffizieller Mitarbeiter seinen Kontaktleuten treu berichtet hatte: Politisches und Privates über Freunde oder Kameraden im Ledigenheim der Nationalen Volksarmee oder auch über einen verdächtigen Zimmervermieter. Dieser gebe „den Russen die Schuld an Allem“, pflege Westkontakte und fordere gar die „Machtübernahme“ durch freie Unternehmer – so protokollierte Schultze ein belauschtes Gespräch.

Schultzes Stasi-Karriere endete erst wenige Tage vor dem Mauerfall: Der letzte Eintrag in seiner „streng vertraulichen“ Kaderakte datiert vom 1. November 1989. Die Zeitläufe zwangen Schultze zum Neuanfang beim Klassenfeind. Dafür war der Träger der „goldenen Verdienstmedaille der NVA“ wendig genug. Von seiner Vergangenheit will er heute nichts mehr berichten. Anfragen dieser Zeitung beantwortete er nicht.

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