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FÜNF  MINUTEN  STADT: Das Einhorn in der S-Bahn

Samstag, früher Morgen, nach der Party. Beste Berlin-Zeit.

Samstag, früher Morgen, nach der Party. Beste Berlin-Zeit. Die Ringbahn schickt Feiergänger ins Bett, von Tempelhof gen Ostkreuz, eine Fahrt in die aufgehende Sonne. Im Waggon Stille, nur Alkoholfahnen und vergehende Nachtgedanken in der Luft. Dann Haltestelle Sonnenallee. Zwei steigen ein, düster und bedrohlich. Schränke, alle beide. Lederhosen, rasierte Schädel, Nieten – in den Hosen, nicht in den Schädeln. Sie tragen Muskelshirts trotz Herbstfrische, die Arme sind dick und tätowiert. Tribalauswüchse über dem Bizeps hat der eine, und steht da etwa noch „Destroyer“ in Runenschrift? Spinnenweben und einen Totenschädel bis zum Unterarm hat sich der andere stechen lassen. Und ein buntes Einhorn in der Armbeuge. Es reitet auf einem Regenbogen. Rocker mit Ironie, wahrscheinlich. Aber deswegen auch harmlos? Nervosität bleibt, der Waggon ist jetzt aufmerksam: Wer sind die Kerle? Und was suchen sie hier? Streit? Der Rechte, der mit dem Einhorn, fummelt in seiner Jackentasche, begleitet von nervösen Blicken. Aber: Stress ohne Grund. Er zieht ein Smartphone hervor und wischt mit breitem Indexfinger drüber. Hör mal, unser Lied, brummt das Einhorn zum Destroyer. Aus dem Handy die Stimme von Bonnie Tyler: „Every now and then I get a little bit lonely and you’re never comin’ ’round.“ Aha, Total Eclipse of the Heart, große Ballade, viel Herz, viel Schmerz. Der Destroyer beugt sich zum Einhorn. Dann küssen sich beide. Marc Röhlig

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