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FÜNF  MINUTEN  STADT: Der Aufschwung

Der Angestellte M. ist spät dran, als er auf dem Weg zur Arbeit eine Schaukel entdeckt.

Der Angestellte M. ist spät dran, als er auf dem Weg zur Arbeit eine Schaukel entdeckt. Die Schaukel ist neu. Und sie ist ungewöhnlich hoch, und M. hat keine Zeit. Der Termin, mit dem er diesen Vormittag beginnen will, drängt. Er möchte nicht schneller gehen müssen, in seinem Wintermantel würde er schwitzen. Ungünstig vor einem Termin. Aber die Schaukel ist wirklich hoch. M. kennt in der Stadt nur Schaukeln, die für Kinder gemacht sind. Sie schwingen, aber sie schwingen nicht aus. Außerdem sind sie meist von Kindern belagert, und Kinder können so verständnislos sein. Diese steht in einem Park, von Bäumen halb umringt, halb auf eine Wiese ausschwingend, der Landschaftsgestalter wird wissen, warum ausgerechnet hier. Nirgendwo jemand, der stören würde. M. sagt: „Einmal“. Er zwängt sich zwischen die Ketten aus rostfreiem Stahl. Es ist schwer, Schwung zu kriegen, und dann doch ganz leicht. Er sieht seine Füße den Himmel durchbohren, die Erde rast unter ihm durch, er schwebt. Ein Pendeln zwischen Erdsturz und Abflug. Immer wieder dieser Moment: In der Luft stehen. Er kennt das Gefühl noch von sehr viel früher als pures Glück. Dann wird ihm schwindelig, was früher nicht passiert ist. Als er am nächsten Tag an der Schaukel vorüberkommt, sitzt eine Frau da zwischen den Ketten mit ihrem Hund in der Sonne. Er würde gern wieder. Er kann es nicht.Kai Müller

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