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FÜNF  MINUTEN  STADT: Die Insel

Gegen 18 Uhr an einer Kreuzung in Friedrichshain. Die Karl-Marx-Allee trifft auf die Straße der Pariser Kommune, dass es nur so brummt.

Gegen 18 Uhr an einer Kreuzung in Friedrichshain. Die Karl-Marx-Allee trifft auf die Straße der Pariser Kommune, dass es nur so brummt. Seit Jahr und Tag wird hier irgendwas gebaut oder abgerissen, stehen hier provisorische Ampeln in bulgarischer Schaltung: Mal gehen sie, meist gehen sie nicht. Kann ein Vater seinem Sohn hier beibringen, wie man sich im Straßenverkehr orientiert? Einer versucht es, guckt links, dann rechts, obwohl von dort nichts kommen kann, dann noch mal links, und das Kind, den viel zu schweren Tornister auf dem Rücken, dreht den Kopf mit, als wäre er an den des Vaters gebunden. Der schaut in den reißenden Strom, der ihnen den Heimweg abschneidet. Das Kind schaut zu ihm auf. Wer, wenn nicht er, kann sie nach Hause bringen? Ein Laster aus MOL donnert vorbei, ein Taxi, ein Fahrrad mit einer Frau vorn und einem Hund hintendrauf. Da! Endlich eine Lücke, der Vater zerrt den Sohn auf die Verkehrsinsel in der Mitte. Auch dort ist die Ampel kaputt, ein blindes Auge. Wieder der Blick nach links, nach rechts, obwohl von dort nichts kommen kann, dann noch mal links. Aber das Kind schaut nur noch auf den Asphalt vor sich. „Papa“, sagt es. „Überall, wo ich hingucke, ist Berlin.“ Dirk Gieselmann

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