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FÜNF  MINUTEN  STADT: Räder und Rollen

Mit dem letzten ICE zurück nach Berlin gefahren. Im Bistro gesessen, Feierabendbier getrunken.

Mit dem letzten ICE zurück nach Berlin gefahren. Im Bistro gesessen, Feierabendbier getrunken. Am Ostbahnhof ausgestiegen. Ohne den Koffer ausgestiegen. Die ICE-Rücklichter grinsen rot. Im Koffer waren die Wohnungsschlüssel. Verzweiflung. Panik. Selbsthass. Hektische Gespräche mit der Dame vom Info-Point. Anrufe bei Service-Nummern. Wo ist der ICE? Wo ist der Koffer? „Können Sie den Koffer beschreiben?“ – „Ein schwarzer Rollkoffer!“ – „Das ist ja mal ganz was Neues, junger Mann. Alle vergesst ihr immer schwarze Rollkoffer. Der Zug wird in Rummelsburg geräumt. Da müssen Sie jetzt nach Rummelsburg fahren.“

In Rummelsburg steht der ICE in der Wartungshalle. Dutzende Bahnarbeiter klettern unter ihm herum. Mitten in der Spätschicht kämpfen sie mit dem Zug, echte Männerarbeit, vorne wird geschweißt, Funken stieben. Ein Kraftmensch im Blaumann schlägt mit einem Hammer gegen die ICE-Räder. Die Räder dröhnen männlich. „Entschuldigung. Haben Sie vielleicht einen Rollkoffer gefunden? So einen schwarzen, äh, mit Rollen?“ Schließlich bringt ein Bahnarbeiter den Koffer. Er schwitzt und hält ihn wie ein Baby. Der Kraftmensch hämmert immer weiter gegen die Räder. Ich ziehe den Rollkoffer hinter mir her, immer an den Arbeitern entlang über den Gussbeton. Der ICE grinst. Als das Hämmern aufhört, höre ich die Kofferrollen ganz leise quietschen. Florian Kessler

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