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FÜNF  MINUTEN  STADT: Vielleicht Mord

Prenzlauer Berg, an einem Taxistand abends um elf. „In die Friedrichstraße, bitte.

Prenzlauer Berg, an einem Taxistand abends um elf. „In die Friedrichstraße, bitte. Ans tote Ende, Mehringplatz.“ – „Kenn’ ich!“, ruft der Fahrer. „Bin ich aufgewachsen.“ Er tippt aufs Taxameter, es piept, „3,20“ leuchtet auf, als wäre das die Gebühr für die Geschichte, die er jetzt erzählt. Kindheit in den Sechzigern, Versteckspiel zwischen Resttrümmern. „Einmal“, sagt er, „haben wir auf einem Flachdach rumgetobt. Bis es halb eingestürzt ist. Die Feuerwehr musste uns da runterholen. Das gab vielleicht Ärger!“ Er lacht und lenkt, vor uns huschen drei Spanier über eine rote Ampel. „Einmal haben wir in einer Ruine Knochen gefunden, vielleicht noch aus dem Krieg. Vielleicht Mord. War aber auch egal.“ Der Fahrer lacht wieder. Wir haben Kreuzberg erreicht, Sozialbauten säumen die Straße. „Damals wollten die den ganzen Stadtteil abreißen. Die Stadtautobahn sollte hier durchführen.“ Er malt einen Bogen in die Nacht, der ungefähr am Moritzplatz endet. Kreuzberg ohne Kreuzberg. Kaum vorstellbar. Was hätten die Spanier gemacht? Kippenberger? Rio Reiser? „Ich wohne hier nicht mehr“, sagt der Fahrer, als wir am toten Ende sind. „Ich vermisse es auch nicht. Hätten sie ruhig plattmachen können.“ Dirk Gieselmann

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