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Berlin: „Für uns ist alles anders geworden“

Mit einer Trauerfeier nahm Zehlendorf vom ermordeten Christian Abschied

Sie sind so dicht zusammengerutscht, dass sie da vorne zu einem Ganzen zu verschmelzen scheinen. Christians Familie. Eine Kerze hat sein Vater getragen, als er den Gang in der überfüllten Kirche hinabschritt, die Mutter einen Teddybären. Jetzt sitzt die Familie in der ersten Reihe, hält sich weinend in den Armen, die Köpfe aneinandergelehnt. Sechs große Kerzen brennen auf dem Altar, davor ein Blumenmeer: Rosen, Gerbera, Nelken, Sonnenblumen. Die Stimme der Pfarrerin klingt fast beschwörend. „Für uns ist mit Christians Tod alles anders geworden.“

Für uns – damit sind sie alle gemeint in der Kirche neben dem Friedhof Schönow. Die Familie, die Nachbarn, die Freunde und die Kinder aus der Süd-Grundschule nebenan. Fast jeder hier hat Christian gekannt, viele von ihnen haben mit nach ihm gesucht, als der Siebenjährige vor einer Woche vom Spielplatz nicht nach Hause kam – und sein Vater, ein Feuerwehrmann, ihn erschlagen in einem Gebüsch fand. Heute haben ihn seine Kollegen, in dunkelblauer Uniform, in die Kirche eskortiert, um ihn vor Kameras und neugierigen Fragen zu schützen.

Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Trauerfeier ist in der Kirche kein Platz mehr frei. Kinder sitzen auf den Treppen, Erwachsene stehen im Gang. Hinter dem Altar erhebt sich eine riesige Glasfront, gibt den Blick auf den blauen Himmel frei, auf Pappeln, Birken und Tannen. Orgelmusik vermischt sich mit Kinderstimmen – dann wird es plötzlich sehr still. Beate Hornschuh-Böhm erzählt die Geschichte von Kain und Abel, es ist die Geschichte von Ken (Name geändert) und Christian. In der der Ältere „verbittert“ und „finster vor Zorn“ über den Jüngeren herfällt, ihn totschlägt, am hellichten Tag. „Auch bei uns, in diesem kinderfreundlichen Idyll, ist die Geschichte geschehen“, sagt die Pfarrerin. „Aus nichtigem Grund, aus purem Frust.“ Da ahnt niemand, dass die Wahrheit noch viel grausamer ist als bislang bekannt.

Nichts wird mehr sein wie es einmal war – da sind sich in der Kirche, im tiefen Süden Zehlendorfs, alle einig. „Ein Riss ist durch unseren Kiez gegangen“, sagt eine ältere Frau. Der Schock habe sie alle näher zusammenrücken lassen, die Gemeinschaft sei enger geworden, das gegenseitige Interesse wacher. Aber es gebe auch mehr Misstrauen. Mit besorgten Blicken begegnen die Nachbarn jetzt Jugendlichen, die in Gruppen durch die Straßen schlendern. Feindseligkeit bekommen die Freunde von Ken, dem 16-jährigen Täter, zu spüren, erst recht, seitdem sich herumgesprochen hat, dass manche Jugendliche eine „klammheimliche Bewunderung“ empfunden haben, weil Ken es geschafft hat, eine Stadt in Atem zu halten. So erzählt es die Pfarrerin. „Jetzt gilt es, unsere Verantwortung wahrzunehmen, als Eltern, Lehrer, Erzieher, Nachbarn und Gemeinde.“

Und sie meint damit: So etwas darf in unserer Mitte nie wieder passieren. Denn neben der „tiefen Trauer“ und dem „brennenden Schmerz“ über Christians Tod sei da noch etwas: „Wir empfinden leidenschaftlichen Zorn über die Ereignisse, die seinen Tod nicht verhinderten.“ Darüber, dass die Warnungen von Lehrern und Erziehern „nur ohnmächtige Reaktionen“ bewirkten, die Ken nicht aufhalten konnten in seiner Spirale aus Wut und Gewalt.

Manche in der Kirche schaffen es, sie schlucken fest, zwinkern mit den Augen, können aber ihre Tränen zurückhalten – bis zu jenem einem Lied – „Gott, dein guter Segen“. Es ist das Lied, das Christian zuletzt oft gesungen hat, weil es seine Klasse wieder und wieder geübt hat. Jetzt hebt die Trauergemeinde an, um gemeinsam zu singen, was vor einer Woche noch Christian mit klarer, heller Kinderstimme trällerte: „Guter Gott ich bitte dich: Schütze und bewahre mich. Lass mich unter deinem Segen leben und ihn weitergeben…“

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