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 Helga Dederichs auf einem ihrer Spaziergänge im Tiergarten. Die Radfahrer beachten sie kaum – und erschrecken sie, die nicht ausweichen kann.

© Thilo Rückeis

Fußgänger und Radfahrer: Die Angst der Seniorin vor dem tödlichen Sturz

Keine Bevölkerungsgruppe wächst so schnell wie die der Hochbetagten. Viele von ihnen sind fit und aktiv – wie Helga Dederichs. Doch die 90-Jährige hat Angst: Sie fürchtet sich vor dem wachsenden Radverkehr.

Wenn Helga Dederichs spazieren geht, ist das reine Taktik: Hinter der Tiergartenstraße hält sie sich auf dem Kiesweg zunächst scharf rechts, um gleich darauf nach links zu wechseln, damit sie in der leichten Rechtskurve des Weges in den Tiergarten hinein die Außenbahn hat. Doch im Ausgang dieser Kurve, hinterm Knallerbsengebüsch, mündet von links ein tückischer Trampelpfad. Schwupp! Prompt kommt eine junge Frau um die Ecke geradelt, die erst im letzten Moment zu sehen ist. Gar nicht allzu schnell, Tempo 20 vielleicht. Das Zehnfache von Helga Dederichs’ Höchstgeschwindigkeit. Also doch relativ schnell.

Helga Dederichs ist eine Vorzeigeseniorin: Sie wohnt zentral und autofrei, fährt jede Woche mit dem Bus zum Markt am Wittenbergplatz, regelmäßig mit der U-Bahn zur Amerika-Gedenkbibliothek, besucht ein Fitnessstudio, um in Bewegung zu bleiben. Und weil Helga Dederichs 90 Jahre alt ist, steht sie exemplarisch für die Zukunft der Stadt: Die Anzahl der Hochbetagten ab 80 Jahren wächst laut der Bevölkerungsprognose des Senats bis 2030 um 80 Prozent, also viel stärker als jede andere Altersgruppe.

Im August hat Helga Dederichs mal eine halbe Stunde lang gezählt: 61 Radler hätten sie überholt auf diesen gekiesten Wegen, auf denen sie laut Beschilderung auch fahren dürfen, aber Fußgänger Vorrang haben. Nach diesen 61 Schrecksekunden hat Helga Dederichs beim Tagesspiegel angerufen und gesagt, dass der zunehmende Radverkehr ihr kein Quell der Freude sei, sondern Angst mache. Angst vor dem Sturz, von dem sie sich nicht wieder erholt. Denn wo Jüngere nur stolpern, brechen sich Alte leicht die Knochen – und stehen nach der Behandlung im Krankenhaus nie wieder auf.

Gerade wurde am Alex eine Seniorin umgefahren

Wusch! Wieder einer, der von hinten vorbeigerauscht kam auf dem gekiesten Weg Richtung Rhododendronhain. Ein Mann mittleren Alters mit Aktentasche auf dem Gepäckträger. Einen halben Meter neben Helga Dederichs; mehr Abstand gibt der Weg kaum her. „Ich bin immer in Habachtstellung“, sagt sie. „Morgens zwischen acht und neun fahren hier nicht nur Einzelne, sondern ganze Pulks.“ Ringsum sind Botschaften, die Adenauer-Stiftung, das Canisius-Kolleg, die Büros am Potsdamer Platz. Da wollen die Pendler hin, die es eilig haben und betagte Passanten allenfalls als Störung wahrnehmen im täglichen Kampf gegen die Uhr.

„Wenn ich in meinem Alter nicht auf den Weg vor meinen Füßen schaue, falle ich buchstäblich auf die Nase.“ Helga Dederichs jammert nicht, sondern konstatiert nur, was sie im Bekanntenkreis erlebt hat und was auch die Statistik nahelegt: Senioren werden bei Unfällen oft besonders schwer verletzt. Aktuell stellt die Generation 65+ knapp ein Fünftel der Berliner Bevölkerung – aber jeden dritten Verkehrstoten. Als solcher zählt, wer binnen Monatsfrist nach dem Unfall stirbt. Wenn Senioren Unfälle verursachen, dann ganz überwiegend als Autofahrer: durch mangelnden Sicherheitsabstand sowie Fehler beim Spurwechsel und Abbiegen.

Auch Helga Dederichs’ Angst vor den Radfahrern ist größer als die reale Gefahr: 99 Mal fuhren Radler im Vorjahr Fußgänger auf Gehwegen um – bei insgesamt fast 138 000 registrierten Verkehrsunfällen in Berlin, davon knapp 2600 mit Fußgängerbeteiligung. Donnerstag Nachmittag ereilte der Albtraum eine 83-Jährige, die auf dem Gehweg am Alexanderplatz von einem Fahrrad gerammt wurde. Während die Frau mit Schnittverletzungen und Hämatomen stationär im Krankenhaus aufgenommen werden musste, flüchtete der Radfahrer unerkannt.

Fälle wie dieser schaffen ein allgegenwärtiges Bedrohungsgefühl gerade bei älteren Fußgängern. Hinzu dürfte eine hohe Dunkelziffer glimpflich abgegangener oder um Haaresbreite vermiedener Zusammenstöße kommen. Helga Dederichs erzählt von einer Bekannten, die sich auf der Tiergartenstraße heil durch den Autoverkehr gekämpft hatte und dann von einem Radler erwischt wurde. Ein freundlicher – und an dem Zusammenstoß womöglich völlig schuldloser – Mann, der der Frau aufgeholfen habe. Kein Fall für die Polizei in jenem Moment. Aber heftig genug für eine Rippenprellung, die wochenlang schmerzte.

"Wo soll ich denn hin?", fragt die 90-Jährige

Beim Spaziergang durch den Tiergarten fällt auf, dass die meisten nicht aggressiv, sondern einfach flott fahren – zu flott aus Sicht einer 90-Jährigen. „Komischerweise sind Frauen unangenehmer“, sagt Helga Dederichs. „Die fahren ganz dicht vorbei, während Männer eher einen Bogen machen. Gerade Frauen zwischen 50 und 60 fahren oft richtig rabiat.“ Diese auf vielen Spaziergängen bestätigte Diagnose spricht für Gedankenlosigkeit bis hin zu Ignoranz, weniger für bösen Willen. Dass die Räder leichtgängiger geworden sind und leiser, macht es nicht einfacher – wie auch Radfahrer erleben, denen Fußgänger oft gedankenlos vors Rad laufen, weil sie weder links noch rechts schauen, wenn kein Motorengebrumm zu hören ist.

Helga Dederichs ruht sich auf einer Bank an der Luiseninsel aus, während ringsum die Eicheln von den Bäumen klackern. Sie mag Berlin, in das sie aus Hannover vor zehn Jahren als 80-Jährige zog. Und sie will es noch lange genießen. „Es wird ja immer propagiert, alte Menschen sollen sich bewegen – aber wo sollen sie denn hin?“, fragt sie inmitten des Parks, den sie gleichermaßen liebt und fürchtet.

Der Fachverband FUSS e. V. arbeitet seit Jahren daran, die Radfahrer von den Trottoirs zu holen. Auch die Initiatoren des Fahrrad-Volksentscheids haben erkannt, dass sie sich um die Fußgänger kümmern müssen, wenn 2017 jede Ja-Stimme zählt. Die Botschaft: Wer gute Radwege hat, verschwindet vom Gehweg. Und wer es nicht lernen will, soll es von polizeilichen Fahrradstaffeln in allen Bezirken beigebracht bekommen.

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