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Berlin: Gabi Dunst (Geb. 1951)

Es gab da ein weiches, weibliches Wesen. Und die Maske davor.

Zwei Frauen, nicht mehr jung, entscheiden sich, gemeinsam in einem Haus zu wohnen. Sie kennen sich kaum. Sie sind verschieden. Sie wissen, die eine wird weiterleben, die andere bald sterben.

Gabi war 1,76 groß, hübsch, sprach mit tiefer Stimme, trank, rauchte, hin und wieder auch einen Joint, trug Jeans und Lederjacken, fuhr mit dem Motorrad durch Mexiko; belästigte sie unterwegs einer, verstand er schnell, dass er sich lieber aus dem Staub machen sollte. Gabi konnte immer schon gut auf sich selbst aufpassen – und auf andere. Lange Zeit wurde sie von dem Gefühl begleitet, sich um ihre Mutter kümmern zu müssen. Um die Mutter, die sich viel zu wenig um die Tochter hatte kümmern können.

Gabi verhüllte und schützte ihr verwundbares und verwundetes Wesen, die der Welt zugewandte Seite wurde grell und rau und brüsk. Ihren Vater kannte Gabi nicht, manchmal zweifelte sie, ob die Mutter wusste, wer er war. Sie lebten im Schwarzwald, ärmlich, waren auf einem Bauernhof untergekommen. Bereits früh bedrückte Gabi die Enge, bereits früh trotzte sie ihr, wollte und konnte sich nicht anpassen. Irgendwann gab die Mutter ihr Kind ins Heim.

Bloß weg hier, wünschte Gabi sich immerzu. Ohne Lust wurde sie Technische Zeichnerin und ging nach der Ausbildung sofort nach Berlin. Sie holte ihr Fachabitur nach, absolvierte Praktika mit „schwierigen Jugendlichen“, die sich vielleicht in ihr erkannten oder sie in ihnen, sie begann, Sozialpädagogik zu studieren. Dann wurde Gabi schwanger, brachte ihren Sohn zur Welt, Fabian, und blieb allein mit ihm. Fuhr Taxi. Und zog mit ihrer Freundin Gitti zusammen. Gitti war viel weicher, weiblicher, auf den ersten Blick.

Sie nahm Gabi eines Tages mit zu ihrer Freundin, Aischa, die eine Bauchtanzgruppe leitet. Die Frauen dort bewegten anmutig ihre Hüften und ihre Schultern, Gabi kratzte sich am Kopf, steckte die Hände tief in ihre Lederjacke, beobachtete Aischa, die noch anmutiger war als die anderen und entschied sich, es auch einmal zu versuchen. Nach kurzer Zeit stellte sie fest, dass Bauchtanz doch nicht das Richtige für sie war. Stand aber eines Tages vor Aischas Tür und sagte: „Kann ich mit dir reden?“ Die beiden redeten, Wochen, Monate, am Ende 15 Jahre. Eine Freundschaft. Gabi konnte gut zuhören, über Anvertrautes schweigen. Aischa sah, was andere nicht bemerkten: Gabis weiches, weibliches Wesen. Und die Maske davor. Wenn einer von uns krank wird, pflegen wir uns, schworen sie sich. Gabi arbeitete für Aischa, entwarf die Flyer für die Bauchtanzgruppe, gestaltete die Internetseite. Lernte einen neuen Mann kennen. Hörte Pavarotti und die Doors. War glücklich in der Natur. Las Krimis. Hockte oft zusammen mit den anderen Frauen, Ingrid, Gitti, Karin. Karin wunderte sich manchmal, wie die elfengleiche Aischa mit der lauten Gabi befreundet sein konnte.

2007 rief Gabi bei Karin an: „Ich bin operiert worden, können wir uns treffen?“ Sie trafen sich. Obwohl sie einander nur ein paar Mal in der Frauengruppe begegnet waren. Karin erschrak bei Gabis Anblick. Sie sah eine magere ältliche Frau, der eine weitere Operation bevorstand. Und entschloss sich, nach kurzem Zögern, Gabi in ihrem Haus aufzunehmen. Zusammen mit ihrem Freund.

Gabi wurde immer winziger, weicher. Legte sich in die Sonne. Betrachtete die Blumen. Horchte auf die Vögel. Aischa und die anderen Frauen kamen jeden Tag und pflegten sie. Manchmal noch tauchte die alte Ungeduld auf. Ein Geistlicher schaute einmal vorbei. Nein, mit Religion hatte sie nichts zu tun, „die Apokalypse gefiel mir immer am besten“, sagte sie.

Die Sonne scheint. Die Blumen sind verblüht. Die Vögel rascheln im Laub. Gabi ist tot. Karin lebt weiter. Tatjana Wulfert

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