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Berlin: Garrelt Weerts (Geb. 1937)

Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar die liebsten

Ein Besucher, der über den Flur in das breite Berliner Zimmer tritt, weiter in das helle Balkonzimmer, über die Brüstung die Bundesallee entlangschaut und sich dann für einen Moment entschuldigen muss, ist verblüfft: Das Gästebad fällt nahezu kümmerlich aus. Man zwängt sich hinein, schließt die Tür – und steht vor der ganzen Welt.

In der Karte an der Wand, über alle Kontinente verteilt, stecken Nadeln mit roten, gelben, grünen und blauen Köpfen. Eine Stecknadelreihe zieht sich von Berlin über Moskau und Jekaterinburg bis nach Peking.

Die meisten Menschen sprechen nur darüber, das müsste man einmal machen, mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren. Garrelt und Hartmut stiegen tatsächlich in den Zug, mieteten ein Abteil mit Dusche, aus der das Wasser nur tropfenweise drang, fuhren durch Birkenwälder, den Ural, die mongolische Wüste, schliefen ein mit dem rhythmischen Rattern der Schienenstöße und wachten mit ihm wieder auf.

Sie nahmen auch andere Züge, den luxuriösen Blue Train durch Südafrika, den Ghan in Australien. Sie flogen nach Afrika und Mittelamerika. Sie durchquerten Europa. Länger als zwei Wochen aber waren sie erst unterwegs, nachdem Garrelt seine Hausarztpraxis aufgegeben hatte.

„Die Arbeit war für ihn das Wichtigste“, sagt Hartmut, „erst kam der Beruf, dann kam der Beruf.“ Er macht eine Pause. „Dann kam das Private. Ich musste lernen, damit umzugehen.“

Hartmut plante die Reisen. Die Urlaubszeit war knapp, 14 Tage im Jahr mussten reichen, länger sollten Garrelts Patienten nicht warten.

Er war geduldig mit den Kranken – umgekehrt konnte man das nicht immer behaupten. Er hörte ihnen zu, auch mitten in der Nacht, am Telefon, sagte nie: „Nun beruhigen Sie sich mal, ich komme morgen früh“, sondern machte sich sofort auf den Weg. Die nächtlichen Einsätze waren ihm sogar die liebsten, auch später, nachdem er die Praxis abgegeben und die Beratung bei der Telefonseelsorge begonnen hatte. Besonders mochte er den Sommer, wenn die Sonne am Abend, wenn er losging, noch nicht untergegangen, und wenn er wieder nach Hause kam, schon wieder aufgegangen war. Er lief dann durch die Straßen, ganz allein, atmete die klare, unverbrauchte Luft.

So hatte er es früher schon getan, auf einem Bauernhof in der Nähe der Nordsee, wo er aufgewachsen war. Das platte Land, die Kühe, die Moore und Dünen, das war schön, doch fehlte eine höhere Schule. Niemand aus dem Dorf hatte bisher ein Gymnasium besucht, niemand sonst war je zur Universität gegangen. Garrelt immatrikulierte sich in Marburg und schloss sein Medizinstudium in Kiel ab. Aber nie gehörte er zu jenen Ärzten, die sich mit prätentiöser Miene als Halbgötter aufspielen. Als er selbst Hilfe brauchte, ein Kollege ihn mit den Worten: „Guten Tag, Herr Doktor“ begrüßte, winkte er ab: „Lassen Sie den Doktor mal weg.“

1965 entschied er sich, in die Stadt zu gehen, in der die Leute nicht gleich hysterisch wurden, wenn ein Mann mit einem anderen zusammenwohnte. Er arbeitete als Assistenzarzt im Spandauer Krankenhaus, übernahm Notfalldienste und die Vertretung in der Praxis, die er später führte.

Dass es in der Heilkunst um mehr geht als um Erkältungen und verdorbene Mägen, dass Rücken schmerzen und Herzen stolpern, weil es der Seele schlecht geht, war Garrelt früh schon klar. In der Zeit, die ihm blieb, viel Schlaf brauchte er nie, hörte er Vorlesungen in Psychologie. Meist waren alle Pulte besetzt, oft musste er stehen. So ergab sich hin und wieder im Gedränge ein Gespräch mit einem jungen Mann, der ihn eines Nachmittags zum Wannsee einlud, ein Kommilitone habe dort sein Segelboot.

Mehr als 40 Jahre riss das Gespräch nicht ab, die beiden lebten und reisten zusammen bis zu dem Tag im Jahr 2002, an dem sich alles änderte, Garrelt nach Hause kam und zu Hartmut sagte: „Ich bin an Kamptokormie erkrankt.“

So heißt eine Variante der Parkinsonkrankheit, bei der sich der Rumpf tief nach vorn beugt. Man kann kaum stehen, gehen oder aufrecht sitzen, die Behandlung ist kompliziert. Garrelt ertrug die Schmerzen ohne Klage, ohne Missmut. Hartmut war für ihn da, all die Zeit.

Eine Stecknadelreihe auf der Weltkarte im Gästebad zieht sich von Miami über die Karibik und den Panamakanal bis nach San Diego. Die letzte gemeinsame Reise über das Meer.

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