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Die erste Generation. Süleyman Topaloglu (links) und Dursun Güzel kamen in den Sechzigerjahren zum Arbeiten aus der Türkei nach Berlin.

© Georg Moritz

Gastarbeiter und Sarrazin: „Niemand hat uns einen Deutschkurs angeboten“

Türkische Gastarbeiter der ersten Generation fühlen sich von Thilo Sarrazins Thesen tief gekränkt. Hier erzählen zwei Einwanderer vom harten Leben in einem Land, das niemals Heimat wurde.

Von Sandra Dassler

„Ich hätte meine Kinder niemals zurücklassen sollen“, sagt Süleyman Topaloglu. „Als ich sie nachholte, war es zu spät, um noch eine Beziehung aufzubauen.“ Dursun Güzel nickt: „Letzte Woche habe ich meine 46-jährige Tochter zum Flughafen gebracht“, erzählt er. „Ich wollte sie umarmen, aber es ging einfach nicht. Da habe ich ihr die Hand gegeben und ihr einen guten Flug gewünscht.“ Dem stattlichen grauhaarigen Mann stehen Tränen in den Augen: „Auch wenn meine Kinder in der Türkei gut versorgt wurden, ich hätte sie nicht so lange dort lassen dürfen.“

Süleyman Topaloglu (65) und Dursun Güzel (66) gehören zu den rund 825 000 türkischen Arbeitern, die deutsche Firmen ab 1961 auf Grundlage eines Abkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei anwarben. Gastarbeiter der ersten Generation nennt man sie heute.

„Wir haben 40 Jahre lang auf dem Bau und in verschiedenen Firmen die härtesten Jobs gemacht, die kein anderer machen wollte“, sagt Güzel. „Wir haben anfangs unter fast unmenschlichen Bedingungen in Baracken gelebt, in Schichten gearbeitet, später die Familien nachgeholt und Steuern gezahlt. Heute erhalten wir zwischen 600 und 800 Euro Rente, weil wir als Ungelernte wenig verdienten. Und nun müssen wir uns von Herrn Sarrazin sagen lassen, dass die Gastarbeiter überflüssig waren und wir Schmarotzer sind?“

Ein Porträt des Arbeiters als junger Mann: Dursun Güzel in den Sechzigerjahren, als er nach Deutschland kam.
Ein Porträt des Arbeiters als junger Mann: Dursun Güzel in den Sechzigerjahren, als er nach Deutschland kam.

© privat

Wie viele Türken der ersten Generation, die sich entschieden, in Deutschland zu bleiben, sind Topaloglu und Güzel empört über die Art und Weise, wie sich Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin (noch SPD) in seinem Buch über sie äußert. Aber im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute, die ihren Zorn in sich hineinfressen, wollen die beiden nicht dazu schweigen. Gemeinsam mit anderen Männern der türkischen Vätergruppe Neukölln werden sie am Mittwoch auf einer Pressekonferenz ihre Meinung zu den Thesen des Berliner Ex-Senators sagen, die sie als pauschal und verletzend empfinden. Und sie werden von ihrem Leben erzählen. Auf Türkisch, mit Übersetzer.

„Ja, wir können immer noch nicht so gut Deutsch wie unsere Kinder und Enkel“, sagt Topaloglu. „Aber dafür gibt es doch auch Gründe: Niemand hat uns damals einen Deutschkurs angeboten.“

Topaloglu war 1968 einer der letzten türkischen Gastarbeiter, ließ Frau und Kinder und seine Stellung als Beamter nur deshalb zurück, weil sein Sohn schwer krank wurde und er glaubte, in Deutschland genug Geld für die Behandlung verdienen zu können. Er schleppte Gipssäcke, hatte Sehnsucht nach der Familie, wollte nur zwei, drei Jahre in Berlin bleiben.

„Ich habe gedacht, Geld ist das Wichtigste“, sagt er. „Wenn man aus der Armut herauswill, ist das so. Heute weiß ich, dass ich mich lieber um die Beziehungen zu meinen Kindern hätte kümmern sollen. Ich habe viel falsch gemacht. Aber jetzt will ich den Jungen helfen, ihren Weg in Deutschland zu finden.“

Deshalb hat Topaloglu sein Schicksal in dem eben erschienenen Buch von Isabella Kroth „Halbmondwahrheiten“ geschildert, deshalb geht er in Schulen und in die Vätergruppe zu Kazim Erdogan.

Erdogan kam selbst 1974 mit nur 100 D-Mark in der Tasche aus der Türkei nach Berlin. Er hat selbst Tag und Nacht in allen erdenklichen Jobs gearbeitet, um sich sein Psychologiestudium zu finanzieren. Der 57-Jährige, der seit 30 Jahren Integrationsprojekte leitet, stellt Sarrazins Äußerungen den legendären Spruch des Schweizer Schriftstellers Max Frisch über die italienischen Gastarbeiter entgegen: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“.

Genau das habe die deutsche Öffentlichkeit zu spät erkannt. Erdogan ist froh, dass es jetzt anders ist, dass Geld für Integration da ist. Er könne den Begriff „Bildungsferne“ nicht ausstehen, sagt er. „Fast alle Menschen blühen auf, wenn sie die Möglichkeit erhalten, sich weiterzubilden.“

Wie Süleyman Topaloglu und Dursun Güzel. Sie geben das, was sie in der Vätergruppe lernen, inzwischen an andere türkische Männer weiter. Sie kümmern sich um ihre Enkel und besuchen, weil sie zwar Deutsch verstehen, aber Hemmungen beim Sprechen haben, im Herbst sogar noch einmal einen Sprachkurs. „Dann können sie Herrn Sarrazin bald auch auf Deutsch die Meinung sagen“, freut sich Kazim Erdogan. Sandra Dassler

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