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GAZETELER Rückblick: Ein Prozess, den es nicht gibt

Warum kein einziges türkisches Blatt über den Fall Keskin berichtet.

Gleichgültig ist Eren Keskin der türkischen Öffentlichkeit gewiss nicht. Und dennoch ist es schon eine Weile her, dass türkische Zeitungen über sie berichtet haben. Während nahezu alle deutschen Zeitungen über Ostern über die Istanbuler Anwältin schrieben, weil sie wegen einer kritischen Äußerung im Tagesspiegel über das türkische Militär zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde, erschien in keiner türkischen Zeitung ein Bericht.

Ein Grund dafür könnte sein, dass die Nachricht für türkische Zeitungen nicht wichtig genug ist, weil die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Außerdem wurde Eren Keskin in den vergangenen Jahren immer wieder einmal festgenommen, befragt und verurteilt – oder aber auch freigesprochen. Auch im aktuellen Prozess ist das letzte juristische Wort noch nicht gesprochen, weil Eren Keskin in Berufung gehen will.

Eine andere Erklärung könnte sein, dass die Redaktionen zurückhaltend sind, weil die Trägerin des Aachener Friedenspreises unter ständiger Beobachtung des Staates sowie rechter und linker Extremisten steht. Das gilt auch für Medien, die über sie berichten und so ins Visier dieser Kräfte geraten könnten.

Wer Keskins Namen ins Internet gibt, kann verfolgen, was ihr schon alles widerfahren ist. „Bisher wurden ihr weit über 100 Ermittlungsverfahren angehängt“, heißt es da auf Deutsch, Englisch und Türkisch. In der Vergangenheit haben auch türkische Zeitungen häufig über sie berichtet. „Eren Keskin sechs Stunden unter Beobachtung“ lautete zum Beispiel die Überschrift einer Meldung, die im März 2007 in der „Hürriyet“ erschien. In der Nachricht stand, dass die Istanbuler Menschenrechtlerin in der osttürkischen Stadt Van, wo sie sich zum Weltfrauentag am 8. März aufhielt, von Sicherheitskräften in ihrem Hotel sechs Stunden lang befragt und dann dem Gericht übergeben wurde. „Danach ließ das Landgericht sie wieder frei“, meldete die „Hürriyet“.

Die Meinungen über Keskin sind auch unter türkischen Journalisten gespalten. So sagte ein namhafter „Hürriyet“-Kolumnist 2002 in einem Radiointerview: „Man sollte solche Frauen eigentlich gar nicht ernst nehmen. Wenn ich jetzt Eren Keskin nicht bei der ersten Gelegenheit, bei der ich ihr begegne, sexuell anmache, wäre ich kein Mann.“ Er musste deshalb eine Geldstrafe zahlen und wurde vom türkischen Presserat gerügt. Suzan Gülfirat

Suzan Gülfirat

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