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Spazierengehen mit Widerstandkämpfern der Roten Kapelle

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Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten: Eine App lässt Berliner Widerstandskämpfer auferstehen

Spazierengehen mit den Widerstandskämpfern der „Roten Kapelle“ – eine App macht's möglich.

Seine Urgroßmutter war „eine lebenslustige Frau“, ist sich Kolja Unger sicher. Allerdings weiß er das nur aus Tagebucheinträgen und Archivmaterial, denn Erika von Brockdorff wurde 1943 von den Nazis ermordet. Die Stenotypistin war Teil der Berliner Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“.

Deren Mitglieder halfen Verfolgten, dokumentierten die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und verteilten Flugblätter und Klebezettel. In ihrer Wohnung in Friedenau schmiedete Erika von Brockdorff mit Freunden Pläne für Aktionen gegen das Regime. Außerdem bot sie einem aus der Sowjetunion kommenden Fallschirmspringer Unterschlupf.

Erst mit 19 Jahren stieß Unger im Internet auf die Geschichte seiner Vorfahrin. Bis dahin war dieser Teil der Familiengeschichte zu Hause kein Thema. Unger wollte mehr ehrfahren. Eine Zeit lang war er jede Woche im Archiv, las Tagebucheinträge und wühlte sich durch unzählige Briefe, erinnert er sich. So erfuhr er, dass seine Urgroßmutter Teil eines Freundeskreises um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen war, die sich vor allem im Tiergarten trafen, wo sie ungestört reden konnten. Im Sommer 1942 deckte die Gestapo die Widerstandsorganisation auf und gab ihr den Namen „Rote Kapelle“.

Die Vergangenheit zurückholen

Unger wollte die Lücke in der Familiengeschichte schließen und „die Vergangenheit ein Stück weit zurückholen“, deshalb war er sofort dabei, als andere Nachkommen von Widerstandskämpfern um den Künstler Stefan Roloff überlegten, die Geschichte der „Roten Kapelle“ anhand einer App zu erzählen, den sich Interessierte auf Smartphone oder Tablet ansehen können - ein Angebot vor allem für die jüngere Generation.

Am Freitag wurde im Tiergarten eine Tafel eingeweiht, die Spaziergänger auf die „Rote Kapelle“ und den Audio-Video-Guide aufmerksam macht. Ansonsten erinnert im Park nichts an die Treffen der Widerstandskämpfer. Doch nun können Nutzer der App die Vergangenheit in den Park projizieren. Am historischen Ort erleben sie scheinbar als Augenzeugen die Vergangenheit, durch nachgestellte Szenen und Originalquellen. Kolja Unger und Felix Harnack erzählen dazu im Video die Geschichte ihrer Vorfahren.

Die App gibt es seit einem Jahr. Rund 200-mal werde sie jeden Monat abgerufen, sagt Ute Stiepani. Die stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ist stets auf der Suche nach neuen Vermittlungsformen, um neue Zugänge zur Geschichte zu ermöglichen. Im Fall der App sei das in „sehr einfühlsamer, berührender und informativer Form“ gelungen, ist Stiepani sicher.

SS-Mitglieder schreiten durch den Park

Ein Großteil des circa 80-minütigen Rundgangs führt durch den Tiergarten, doch auch andere Orte in der Umgebung kommen vor. Beim Verlassen des Parks warnt die App, man müsse nun den Verkehr beachten. Tatsächlich ist man mit Kopfhörern und Bildschirm von der Außenwelt abgeschirmt. Während in der Fiktion Mitglieder der SS durch den Park schreiten, übersieht man schnell die joggenden und radelnden Mitmenschen der Realität.

Doch dann erzählt Kolja Unger noch einmal ganz real von seiner Urgroßmutter. Sie wurde im Herbst 1942 verhaftet und landete erst im Gestapo-Gefängnis am Alexanderplatz, später im Frauengefängnis an der Kantstraße. „Zunächst sollte sie nur ins Zuchthaus“, sagt Unger. „Der Richter sagte, dass ihre Beteiligung nicht so groß gewesen sein konnte, weil sie eine Frau war.“ Daraufhin habe seine Urgroßmutter im Gerichtssaal gelacht, erzählt Unger.

„Und als der Richter sagte, ihr werde das Lachen noch vergehen, antwortete sie: ‚Ich werde auch dann noch lachen, wenn Sie mich zum Schafott führen.‘“ In der Zelle, so sei es von Mitgefangenen überliefert, habe seine Urgroßmutter „Die Gedanken sind frei“ gesungen. Nun sorgt Kolja Unger dafür, dass ihre Geschichte und der Widerstand ihrer Freunde nicht in Vergessenheit geraten.

Der „Audiovideoguide Rote Kapelle“ kann als App heruntergeladen oder in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand an der Stauffenbergstraße 13 kostenfrei ausgeliehen werden. Infos unter www.gdw-berlin.de

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Milena Fritzsche

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