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Inge Deutschkron legte am Gleis 17 eine weiße Rose nieder.

© dapd

Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus: Schuldgefühle an Gleis 17

Am Bahnhof Grunewald wurde am Donnerstag der ermordeten Juden gedacht, die von hier zwischen 1941 und 1945 deportiert wurden. Die Schriftstellerin Inge Deutschkron rief dazu auf, nie die Frage zu vergessen, warum der Holocaust möglich war.

Am Anfang Kinder- und Männerstimmen, ein Saxophon, ein Lied aus der Barockzeit. „Wir sind ein Traum der Zeiten, ein Bild der Eitelkeiten“, singt der Staats-und Domchor. „Der Jahre Maß bestehet, wie Rauch der bald verrinnet, wie Schatten, der beginnet ...“ Hinterm Bahnhof Grunewald, Gleis 17, sind an diesem Oktobermittag hunderte Berliner zusammengeströmt, aller Generationen. Viele tragen weiße Rosen, einige Blumen liegen schon auf den Gleisen. Hoch oben Sonne, Federwolken, Kondensstreifen. Es gibt da, wo die Schienen enden, abgesperrte Plätze für Ältere, aber die meisten Anwesenden stehen gedrängt zwischen Rampe und rot-weißem Band. Tatsächlich ist ihr unbequemes Zusammengepferchtsein ein Teil dieses Erinnerungsszenarios, das vor einem Jahr erstmals stattfand, als sich der Beginn der Berliner Judendeportationen in NS-Vernichtungslager zum 70. Mal jährte. Die Idee zu solch einer Versammlung hatte die Schriftstellerin und Überlebende Inge Deutschkron, Kulturstaatssekretär André Schmitz sorgte für die Organisation. Bei der sehr persönlichen Initiative trägt dazu bei, dass Pflichtgewicht und Beklommenheit – wie sie offizielle Rituale oft belasten – zurücktreten. „Wer nicht von diesen Zeiten, sich Kunde weiß zu geben, der führt ein armes Leben und stirbt in Traurigkeit“, mahnen die Sänger.

Das Lachen der Inge Deutschkron über die Tücken des Mikrofons und der kräftige Ton ihrer Ansprache geben der Zusammenkunft einen Impuls optimistischer Gelassenheit. Seinerzeit war sie untergetaucht und der Deportation entkommen: „Mit welchem Recht versteckte ich mich?“ Dieses Schuldgefühl habe sie nie wieder losgelassen; wie besessen sei sie von der Idee gewesen, Vergleichbares sollte sich nie wiederholen.

Am Tag der ersten Deportation hatten 1089 Juden einen Sieben-Kilometer-Fußmarsch mit ihren Koffern von der Sammelstelle Levetzowstraße nach Grunewald zu laufen, mitten durch die Stadt, bis sie erschöpft und gedemütigt hier ankamen, beschreibt Gideon Joffe. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde schlägt den Bogen zur Gegenwart: „Wie schaffen wir es, mehr Mut in die Gesellschaft zu bringen?“ André Schmitz stellt sich an diesem „Ort der Schuld, der Verantwortung und des ängstlichen Wegsehens“ vor, dass es vor 71 Jahren vielleicht ein ebenso wunderschöner Herbsttag gewesen sei. „Warum war der Widerstand in unserer Stadt so gering?“ Er hoffe, dieses Datum werde künftig als „Berliner Erinnerungstag“ begangen.

Schülerinnen aus der Politik-AG der Neuköllner Ernst-Abbe-Schule, 13. Jahrgang, darunter etliche Kopftuchträgerinnen, berichten über Recherchen zur Geschichte ihrer Lehranstalt, die einst Kaiser-Friedrich-Realgymnasium hieß. Sie seien erschrocken gewesen, wie die Zahl jüdischer Schüler von 130 im Jahr 1932 auf nur noch fünf 1934 gesunken sei. Sie sind Schicksalen emigrierter, ermordeter Schüler und Lehrer nachgegangen.

„Wo die saßen, sitzen jetzt wir in der Schule“, sagt eine. Zum Schluss stellt der Chor mit einem Lied, das alle kennen, an diesem Ort des schrecklichsten Verrats die Frage nach Freundschaft und Treue. „Should all acquaintance be forgot ...“, singen die Jungen – als wollten sie Inge Deutschkrons bohrende Frage aufgreifen, wie „das“ damals nur möglich gewesen sei. Darauf müsse weiter eine Antwort gesucht werden, hat die Neunzigjährige geendet: „Die Aufgabe ist gestellt! Wir können sie NICHT weitergeben.“

Nach der Veranstaltung stehen Berliner in Gruppen auf den Schienen. Oben geht man durch eine junge Ahorn- und Birkenallee, die zwischen den Schwellen emporschießt. Über Metallroste, an deren Perronkante Daten und Passagierzahlen der Deportationen vermerkt sind, die bis Februar 1945 angedauert haben.

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