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Berlin: Gemäßigte Zone

Berliner Wahlkreise – letzte Folge: In Charlottenburg-Wilmersdorf liegen SPD und CDU fast gleichauf

In Charlottenburg-Wilmersdorf, das ist amtlich, gibt es die meisten Ärzte und Zahnärzte der Stadt. Auch die Apothekendichte ist höher als sonst. Ähnlich verhält es sich mit dem Stand der Advokaten. Seine Klienten in Ku’damm-Nähe zu empfangen, zeugt von beruflichem Erfolg. Charlottenburg-Wilmersdorf ist der Kernbezirk des alten West-Berlin, eine Gegend, in der sich in den Zwanziger Jahren die künstlerische Avantgarde niederließ, um die Moderne auszurufen. Heute ist die pulsierende Kulturszene östlich des Charlottenburger Tores zu finden. Selbst Nofretete hat ihren Wohnsitz nach Mitte verlagert.

Zwischen Grunewald und Jungfernheide wählt man gemäßigt – CDU und SPD bekamen bei der Bundestagswahl 2002 je ein Drittel der Stimmen. Nicht weit dahinter, mit 22,5 Prozent, lagen schon die Grünen. Petra Merkel als Spitzenkandidatin der SPD konnte mit Hilfe der Erststimmen aus dem Grünen-Lager einen deutlichen Sieg einfahren: Sie bekam 41,7 Prozent. Der Friseurmeister Siegfried Helias von der CDU hatte keine Chance. Sein Nachfolger Ingo Schmitt, Europa-Abgeordneter und CDU-Landesvorsitzender, hat zwar wenig Charisma, ist aber immerhin bekannt. Mit ihren Kampagnen für den Erhalt des Fernbahnhofs Zoo versuchen derzeit beide Kandidaten, ihr lokales Profil zu schärfen.

In Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es viele gewachsene Wohnquartiere mit großen Altbau-Wohnungen. Vor dem Krieg wohnten dort jüdische Ärzte und Intellektuelle. Die beiden Bezirke hatten damals den größten jüdischen Bevölkerungsanteil in Berlin. Maler, Schriftsteller, Schauspieler und ihre Mäzene zogen in die Straßen zwischen Rüdesheimer und Prager Platz. Theater, Kino und Varietébühnen florierten. Davon ist nicht mehr viel übrig. Wegen sinkender Einnahmen mussten die meisten Ku’damm-Kinos in den 80er und 90er Jahren aufgeben. Mit der Freien Volksbühne und dem Schiller- Theater verlor der Bezirk auch wichtige Stätten der Hochkultur.

Das Haushaltseinkommen liegt bei rund 1600 Euro netto, 150 Euro über dem Berliner Durchschnitt. Elf Prozent der Einwohner gelten als reich. Der typische Charlottenburg-Wilmersdorfer ist gut ausgebildet und arbeitet als Selbstständiger. Fast 19 Prozent haben einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss. Doch soziale Idylle ist auch Charlottenburg-Wilmersdorf nicht mehr. Seit Jahren verliert der Bezirk einkommensstarke Haushalte ans Umland. Weil auch die Geburtenrate rückläufig ist, sank die Einwohnerzahl seit 1993 um 19000, etwa sechs Prozent. Viele Zuzügler kommen aus dem Ausland, die Quote der Menschen ohne deutschen Pass kletterte auf 18 Prozent, in einigen Quartieren wie Franklinstraße oder Ernst-Reuter-Platz sogar auf 30 Prozent, ähnlich hoch also wie in Problemkiezen in Wedding oder Neukölln. Der Anteil von Sozialhilfeempfängern schwankte 2003 zwischen 0,6 an der Glockenturmstraße und 19,2 Prozent am Friedrich-Olbricht-Damm.

Mit 44,5 Jahren hat Charlottenburg-Wilmersdorf das höchste Durchschnittsalter bei den Einwohnern. Die Senioren leben vor allem in Westend, Schmargendorf, Glockenturmstraße und rund um den Rüdesheimer Platz. In zentraleren Vierteln sind die Bewohner deutlich jünger. 314000 Menschen leben im Bezirk. Der Frauenüberschuss liegt bei rund 17000. 53 Prozent der Einwohner leben allein, 31 Prozent in einem Zweipersonenhaushalt.

Was bedeutet das für die Politik? Die Rentner mit weiteren Kürzungen zu konfrontieren, dürfte in Charlottenburg-Wilmersdorf viele Stimmen kosten. Auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer wird die vielen Ladeninhaber und Freiberufler nicht sonderlich begeistern. In Charlottenburg-Wilmersdorf funktioniert die ortsgebundene Marktwirtschaft bisher noch. Straßen voller Antiquitätenläden und Raumausstatter für den gehobenen Geschmack ihrer Kunden, die gleich um die Ecke wohnen. Wo gibt es das noch? Großstadtflair und Kiezatmosphäre – so fühlten sich die Charlottenburger und Wilmersdorfer bisher wohl. Ganz langsam nur schwindet ihre Gewissheit, sie seien noch immer etwas Besonderes.

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