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Hans-Georg Lindenau bei einer Kundgebung am vergangenen Donnerstag. Jetzt hat er sich offenbar mit dem Hauseigentümer geeinigt.

© Jörg Carstensen/dpa

Update

"Gemischtwarenhandel" in Berlin-Kreuzberg: Erstmal keine M99-Zwangsräumung - "die Brisanz bleibt"

Der linke Szeneladen M99 wird vorerst nicht geräumt. Ladeninhaber "HG" kündigt aber einen Durststreik an. Die Polizeigewerkschaft rechnet weiter mit einem Großeinsatz.

Überraschende Wende im Streit um die drohende Räumung des linksautonomen „Gemischtwarenhandels“ in der Kreuzberger Manteufelstraße 99. Wie die Quartiers-Initiative "Bizim Kiez" und der Mieter Hans-Georg Lindenau auf einer gemeinsamen Pressekonferenz verkündeten, wurde die zum 9. August angekündigte Räumung abgesagt. Dies hatte zuvor der Rechtsanwalt des Hauseigentümers Wollmann am frühen Donnerstag angekündigt. Der Stellungnahme zufolge kam es zu einer Einigung, einem sogenannten Räumungsvergleich, der den Auszug des Ladeninhabers „HG“ Hans-Georg Lindenau in Etappen vorsieht. Diesen Vergleich habe er mit Lindenaus Rechtsanwalt „fernmündlich“ abgeschlossen und bereits dem Vollstreckungsgericht schriftlich mitgeteilt, sagte Cornelius Ernst Wollmann dem Tagesspiegel.

"Die Entscheidung kam für mich vollkommen überraschend."

Mit der kurzfristigen Einigung war der Hauseigentümer dem letzten rechtlichen Mittel, dem Räumungsschutz, des Bündnisses um "HG" zuvorgekommen. Den Räumungsschutz hätten die Unterstützer, mit einem medizinischen Gutachten von Ende Juli, vor Gericht erwirken können. Laut Gutachten könne "der Wegfall der gegebenen Strukturen" bei Lindenau "zu einer erheblichen Destabilisierung mit depressiven bis hin zu suizidalen Krisen führen". "Die Entscheidung kam für mich vollkommen überraschend.", sagt Magnus Hengge, Unterstützer der Initiative "Bizim Kiez", der die Entscheidung bei der Pressekonferenz bekannt gab.

Lindenau verpflichtet sich Räume ganz zu verlassen

Bei dieser gemeinsamen Pressekonferenz mit der Quartiers-Initiative "Bizim Kiez" erklärte Lindenau, er werde tatsächlich kommende Woche die Wohnung im ersten Stock des Hauses frei geben, die Treppe würde versiegelt. Im Gegenzug habe er erreicht, bis zum 20. September in seinem Laden im Erdgeschoss verbleiben zu dürfen. Er sucht nun einen vergleichbaren Ort im Kiez, an dem er seinen "Gemischtwarenhandel für Revolutionsbedarf" weiterführen kann. Den zu finden, dürfte im hochgentrifizierten Kreuzberger Wrangelkiez schwierig werden. Andernfalls fordert Lindenau zumindest eine Entschädigung für seine Waren.

"HG" Lindenau bei der Pressekonferenz am Donnerstag.
"HG" Lindenau bei der Pressekonferenz am Donnerstag.

© Helena Piontek

Am liebsten will Lindenau aber in den Räumen in der Manteuffelstraße 99 bleiben. Um öffentlichen Druck aufzubauen, kündigte Lindenau jetzt auf der Pressekonferenz einen Durststreik an - ab wann, ließ er offen. Auch die für Sonntag angemeldete Demonstration sowie die Kundgebung am Donnerstag um 19 Uhr sollen wie geplant stattfinden. "Dass die Räumung nicht stattfindet ist ein Erfolg der Protestaktionen und eine große Erleichterung für HG", sagt David Schuster, Pressesprecher vom "Bündnis Zwangsräumung verhindern". Polizei und Veranstalter der Protestaktionen rechnen nach der Einigung mit deutlich weniger Teilnehmern bei der Demonstration am Sonntag. Benjamin Jendro, Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei sagte, er rechne trotz veränderter Lage mit einem Großeinsatz der Berliner Polizei. Jendro sagte, es wäre schön, wenn die Demonstration friedlich bleiben würde, er rechne aber dennoch mit Ausschreitungen: "Die Brisanz bleibt."

Der Räumungstitel bleibt weiterhin bestehen, wird aber für den Laden zunächst bis 20. September ausgesetzt. "HG verpflichtet sich, die Räume ganz zu verlassen, wann ist aber noch ganz offen", sagt Magnus Hengge von "Bizim Kiez". Es gehe jetzt darum, eine neue Bleibe für Lindenau zu finden, damit dieser ab Ende September nicht obdachlos sei. Er hoffe außerdem auf den guten Willen des Hauseigentümers, auch bei Ablaufen der Frist den Laden nicht zwangsräumen zu lassen.

Unterstützung von Lissabon bis Russland

Im Falle einer Räumung befürchtet Lutz Boruta, Unterstützer und Assistenz von Lindenau, ähnliche Szenen wie zuletzt bei den Auseinandersetzungen in der Rigaer Straße. "HG ist in der Szene international bekannt. Es gibt Solidarisierungsschreiben von Lissabon bis Russland."

Wie berichtet haben die Hauseigentümer vor Gericht Räumungstitel erstritten, die Räume in der Manteuffelstraße sollten am 9. August von einem Gerichtsvollzieher geräumt werden. Gegen diesen Räumungsantrag hatte Lindenau allerdings einen Räumungsschutzantrag eingereicht, über den das Gericht noch hätte entscheiden müssen.

Der Mitte der 1980er Jahre von Lindenau gegründete „M-99 Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf“ zählt zu den Berliner Kuriosa, die längst einen festen Platz in vielen internationalen Reiseführern haben. Lindenau ist tief in der linken Szene verwurzelt. Auf der linksextremen Plattform indymedia wird dementsprechend bereits zu Protesten gegen die Räumung aufgerufen. "Der auf den Rollstuhl angewiesene Ladenbetreiber Hans Georg Lindenau (HG) würde damit nicht nur seinen Arbeits- und Lebensmittelpunkt, sondern auch eine Wohnung verlieren", heißt es dort.

In dem Streit mit den Hauseigentümern ging es vorrangig um eine „unerlaubte pensionsartige Untervermietung“ des ersten Obergeschosses. Lindenau, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, nutzt überwiegend das Erdgeschoss als Laden und Wohnung. Zur gemieteten Fläche zählen außerdem Kellerräume.

Der M99 - ein Überbleibsel eines wilden Berlins. Nur der Bedarf für Revolution ist nicht mehr so groß wie früher. Lesen Sie hier die Reportage von Johannes Laubmeier

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