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Berlin: Gerhard Finn (Geb. 1930)

Es war kein lauter Kampf, sondern einer, den er hinter den Kulissen focht

Manchmal passiert etwas, auf das man keinen Einfluss hat, das aber alles ändert. Man kann das ungerecht finden, man kann sich fügen, Gerhard Finn hat den Kampf gewählt. Als Jugendlicher zwischen die Fronten der Nachkriegszeit geraten, erlebte er Folter und Gefangenschaft: drei Jahre, die sein Leben änderten.

Er war Hitlerjunge und wurde kurz vor Kriegsende aus Berlin nach Thüringen, in ein kleines Dorf bei Jena evakuiert. Es wurde Dezember, das erste Weihnachten ohne Krieg stand bevor. Gerhard Finn war mit anderen Jungs im Wald unterwegs, sie fanden Waffen, spielten damit und wurden dabei gesehen. Es gab Gerüchte, dass immer noch deutsche Partisanen gegen die Alliierten unterwegs seien – was nicht der Fall war. Der sowjetische Geheimdienst nahm Gerhard Finn, zwei weitere Jungs und drei Lehrer fest. Der Vorwurf: „Werwolf“-Aktivitäten. Eine unabhängige Untersuchung des Vorfalles fand nicht statt, genauso wenig eine Verhandlung vor dem Militärgericht. Gerhard Finn schrieb später von „schwersten Misshandlungen“ und „herausgeprügelten Geständnissen“. Tatsächlich genügten die auf Russisch verfassten Verhörprotokolle, um ihn und die anderen in das sowjetische Speziallager Nr. 2 zu sperren, das sich auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald befand.

Drei Jahre, seine Jugend, war Gerhard Finn eingesperrt, eine Zeit, in der er „mehr dahinvegetierte als lebte“, wie er schrieb. Er war 18, als er – fast tot – entlassen wurde. Er war der einzige Überlebende der damals Verhafteten. Mit der Lungentuberkulose, die er sich im Lager geholt hatte und der er seine Entlassung verdankte, sollte er den Rest seines Lebens kämpfen. Wenn er später als Zeitzeuge sprach, dann sprach er kaum über seine persönliche Geschichte. Er sprach lieber über das Unrecht im Allgemeinen, das ihm und den vielen anderen Kindern und Jugendlichen in den Lagern der sowjetischen Besatzungszone widerfahren war.

Nach seiner Freilassung ging er nach West-Berlin und nahm von hier aus seinen Kampf gegen die DDR und den Kommunismus auf. Es war kein lauter Kampf, sondern einer, den er hinter den Kulissen focht. In der „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit“ war er einer der Ruhigen. Er hielt keine Reden, organisierte keine subversiven Aktionen, sondern gründete und leitete einen Suchdienst, der über den Verbleib oder Tod von Verhafteten Informationen sammelte. Dazu fuhr Gerhard Finn auch zurück in die DDR und riskierte seine eigene Festnahme. Er traf sich mit ehemaligen Häftlingen oder Angehörigen von Vermissten.

Informationen sammeln, aufklären, sich für die Häftlinge einsetzen, das trieb ihn an, das war sein Weg, den verlorenen Jahren und den traumatischen Erfahrungen etwas entgegenzusetzen. Seine Art war sachlich und zurückhaltend: politischer Druck hier, dort ein Anruf, dann ein geheimes Treffen. Er arbeitete für eine Zeitschrift für Flüchtlinge und Vertriebene, er schrieb Bücher über die politische Verfolgung und das Lagersystem in der DDR, denen man seine Wut zwischen den Zeilen anmerkt. Er wurde Pressesprecher des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen, später baute er ein Betreuungsnetzwerk für freigekaufte politische Häftlinge auf. Der Zusammenbruch der DDR war für ihn wie ein Triumph und eine Genugtuung auch für die Schmerzen und Schwächen, die ihn immer begleiteten.

Denn seine Lungenkrankheit wurde er nicht los. Die vielen Krankenhausaufenthalte und Besuche in Sanatorien halfen ihm nur, die Tbc einzudämmen. Vielleicht ließ er auch deshalb nach 1990 nicht von seinem Thema. Er musste einfach weitermachen, auch wenn die Krankheit ihn immer mehr behinderte. Er wurde Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, leitete verschiedene Opferverbände und trieb die Einrichtung von Gedenkstätten voran. Buchenwald und die Erinnerung an die Opfer des Speziallagers Nr. 2 waren ihm besonders wichtig. Er setzte durch, dass in der bereits bestehenden Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus auch ein Gedenkort für die Inhaftierten von 1945 bis 1950 geschaffen wurde.

Seine eigene Anerkennung erhielt er Mitte der 1990er Jahre. Er war jedoch nicht sicher, ob er sich über das Schreiben aus Moskau freuen sollte. Russland hatte ihn rehabilitiert. 50 Jahre nach seiner Verhaftung hatte er die offizielle Bestätigung aus den Archiven, dass er kein „Werwolf“ gewesen war, sondern nur ein Junge zur falschen Zeit am falschen Ort.

Am 11. November 2013 folgte er seiner Frau, die ein paar Monate vor ihm gestorben war. Karl Grünberg

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