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Berlin: Gerhard Kiesling (Geb. 1922)

„Wir wussten, was wir durften und was nicht“

Allein der Treppenaufstieg war schon eine Leistung: Der kleine, wendige Mann klettert die 986 Stufen der Evakuierungstreppe nach oben. Es ist ein Tag im September 1969, kurz vor der Eröffnung des Fernsehturms. Der Mann, der ganz nach oben möchte, 365 Meter hoch, atmet durch, blickt zurück auf Fahrstuhlschacht, Stromleitungen und Wasserrohre. „Aber dann musste man vom 249 Meter hohen Tragepodest in den Antennenteil umsteigen und die restlichen 116 Meter auf hängenden Drehleitern steil nach oben krauchen.“ Unwirkliches Lichtblau schimmerte in dem ein Meter breiten Kunststoffkäfig, bis es nicht mehr weiterging. Kurz hinter dem „Tilgerpendel“, das die maximale Antennenschwankung bei 60 Zentimetern hält, öffnet der Mann eine Klappe. Der Wind zerrt an seinen Kameras, neben ihm blinken die Flugwarnlichter. Er ist der erste Reporter hier oben, sieht die Stadt aus einer neuen Perspektive.

Der Alexanderplatz ist aufgewühlt, das große Hotel im Bau. Der Bildreporter schraubt ein Fischaugen-Objektiv auf seine Nikon-Kamera, fotografiert die Stadt mal mit, mal ohne sich selbst. Gerhard Kiesling, der Turm, die Stadt. Das Bild schickt er seinen Freunden zum Jahreswechsel. Und alle staunen: Der Kies traut sich was.

Gerhard Kiesling, Fotograf der „Neuen Berliner Illustrierten“, NBI, war weder ein Haudrauf noch ein von Sensationslust Getriebener. Bilder, die er machen wollte, malte er zuvor im Kopf. „Er ruhte völlig in sich, war bedächtig“, sagt ein Kollege. Ein anderer meint, die Arbeit als Freischaffender kam dem Individualisten sehr entgegen, er war bestimmt und bestimmend. Ein Dritter findet, dieser kleine Mann sei so groß gewesen, „dass ihn keiner anpissen konnte“.

Kaum ein Fotoreporter hat in seinen Porträts so viel Seele gespiegelt. Denn er hatte es nicht eilig, er konnte warten. Für die Jungen, die jetzt die Alten sind, war er ein bewunderter Nestor und ist es bis zu seinem Tod geblieben. Gerhard Kiesling ist in seinem 93. Lebensjahr in einem Pankower Pflegeheim neben seinen acht übereinandergestapelten Fotokoffern friedlich eingeschlafen.

Als er vor Jahren gefragt wurde, wie viele Fotos er in seinem Leben gemacht habe, sagte er, wie aus der Pistole geschossen: 500 000. Mit der Zählung muss er schon in Greiz begonnen haben. Da entwickelte er mit seinem Vater in einer im Kleiderschrank installierten Dunkelkammer die Rollfilme. Mit den Fotos lief er zur örtlichen Zeitung, und die druckten einige davon sogar. Er wurde Fotograf im Greizer Theater, dann in Berlin. Die Zuzugsgenehmigung hatte ihn zwei Schachteln „Camel“ gekostet. In den Theatern der Hauptstadt wurde er zum ständigen Gast.

Die Frau des Kulturministers, Lilly Becher, Chefredakteurin der NBI, engagierte den jungen Mann für ihre Illustrierte. Kies, wie ihn alle nannten, blieb dem Blatt 40 Jahre treu. Viele seiner Fotos wurden so berühmt wie die Protagonisten: Brecht und Weigel, Anna Seghers, Ernst Busch, Gerard Philipe, Simone Signoret, Marlene Dietrich, Paul Robeson. Der große Mackie-Messer-Mime Wolf Kaiser, der aus seinem Altbau tritt, um ins nahe Berliner Ensemble zu eilen. Politiker, Kosmonauten und etliche Namenlose: die trauernden Werktätigen bei Väterchen Stalins Tod, Babys, Nachtschwestern, Ärzte. In unzähligen Reportagen zeigte er die DDR, wie sie war, wie sie sein konnte oder sollte.

„Wir wussten, was wir durften und was nicht.“ Manchmal aber auch nicht. Er hatte einen Kumpel im heißen Schacht so unbekleidet abgelichtet, wie er dort rumkroch. Als die NBI am Freitag erschien, traute der Fotograf seinen Augen nicht. Sie hatten seinem real existierenden nackten Kumpel eine ganz und gar ausgedachte Badehose an die Lenden retuschiert.

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