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Berlin: Gerhard Lothar Kühnisch (Geb. 24. September 1939)

Der Sturmvogel flog aus, sobald er konnte

Plötzlich stand dieses Pferd im Tanzsaal. Eine Faschingsfeier im Jugendfreizeitheim, Cowboymotto, da muss ein Pferd schon sein. Er machte es möglich. Oder später, als sie zu „Cats“ nach Hamburg fuhren. Irgendwie bekamen sie alle Kinder und Jugendlichen in die Autos von Eltern und Heim-Mitarbeitern rein. Was für ein Tag. Dazu die anderen Ausflüge und Reisen, nach Schweden und Norwegen, mal schnell an den Wannsee oder, viel später, nach Niedersachsen in das kleine Ferienhaus, das er sich mit seiner Frau gekauft hatte. Da waren die Jugendlichen längst erwachsen geworden und kamen mit ihren Kindern vorbei.

Seit Ende der 60er Jahre veranstaltete er wöchentliche Disko-Abende im Freizeitheim, geradezu revolutionär war das damals. Er machte Fotokurse mit den Kindern, richtete in einem Gemeinschaftsraum ein Café ein, ein Ort, an dem sie alle gern waren. Mehr als 30 Jahre leitete Gerhard Kühnisch das „Wolfgang-Scheunemann-Heim“ in Tiergarten, das zwischendurch in „Treffpunkt Bredowstraße“ umbenannt wurde. Keine Arbeitsstelle, sondern Lebensinhalt. Seine Dienstzeit ging meistens von 14 bis 22 Uhr, nach Schulschluss eben, wenn die Kinder und Jugendlichen kamen, oft am Sonnabend. Lange Zeit gab es kaum einen Urlaub, den er allein mit seiner Frau verbrachte. Zum Glück machte sie da mit. So hatten sie sich schließlich kennengelernt, inmitten von Jugendlichen, als Jugendliche.

Er war 14, da nahm ihn ein Freund mit zu den „Sturmvögeln“, einer neuen Gruppe in Tiergarten. Sie fuhren oft raus aus der zerbombten Stadt ins Grüne, gingen am 1. Mai gemeinsam demonstrieren, der wöchentliche Heimabend war ein heiliger Termin. Beim Zeltlager im Frankenwald, später in Österreich, zogen sie von Ort zu Ort, saßen, kochten, aßen draußen im Regen. Es war egal, wer das Gymnasium besuchte und wer – wie er – zur Mittelschule ging. Es war egal, wer groß und stark war und wer – wie er – eher klein und schmächtig blieb. In der Gruppe war Gerhard glücklich.

Zuhause in Tiergarten war er’s nicht. Ein Elternhaus wie ein Schwarzes Loch, die Kälte fühlbar. Mutter und Vater stritten viel, freundlich gesprochen wurde wenig. Wahrscheinlich blieben sie nur wegen ihm, dem Einzelkind, zusammen. Ein liebloses Gegeneinander, bisweilen boshaft, sie gönnten sich gegenseitig nichts, das galt auch für den Sohn: Als er ein Mädchen aus der Jugendgruppe heiratete, schob die Mutter einen fadenscheinigen Grund vor, weshalb sie nicht zum Termin im Standesamt kommen konnte. Gerhard, der Sturmvogel, flog aus, sobald er konnte.

Vielleicht verlief seine Ehe darum so anders, auf Augenhöhe, im Einvernehmen, ein liebevolles Miteinander, in dem es noch viel Platz für andere gab, für Freunde und Schützlinge: Ein Jugendlicher litt unter seiner manisch-depressiven Mutter. Dann kommst du eben erst mal zu uns, sagte Gerhard, Anfang 20, gerade frisch verheiratet. Die Wohnung in Mariendorf war klein, aber wo er helfen konnte, musste er helfen. Ging gar nicht anders.

Eine eigene Familie war nie Thema für ihn. Waren das nicht alles seine Kinder da im Freizeitheim? Zumindest behandelte er sie so, hielt zu vielen über Jahrzehnte Kontakt. Gut möglich aber auch, dass er nie Vater werden wollte, weil er fürchtete, dass es so ausgehen könnte wie damals bei ihm zuhause. Das Leben war gut, so wie es war.

Er füllte es mit Reisen, Hauptsache draußen sein, in der Natur. Er ließ die Jugendlichen durch Bäche hopsen und in der Böschung faulenzen. Wer weiß, wie vielen es da so ging wie ihm damals, wie viele vor den Verhältnissen zuhause flüchteten? Darum mussten es tolle Momente werden, jedes Mal, darum nahm er die Planung sehr ernst, organisierte unermüdlich Aktivitäten.

Später durften es auch mal Reisen nur zu zweit mit seiner Frau sein, quer durch Deutschland, nach Teneriffa und Korsika, am liebsten mit dem Wohnwagen. Es war im Strandurlaub, Ende der 70er Jahre in Dänemark, als er plötzlich nicht mehr so leichtfüßig durch den Sand rennen konnte. Und bald darauf, es war Winter, machten seine Beine beim Spaziergang auf der zugefrorenen Havel schlapp, er bekam Rückenprobleme. Dann fiel ihm das Treppensteigen schwer, hocken und bücken ging auch nicht mehr. Diagnose: Progressive Muskeldystrophie. Muskelschwund, unheilbar.

Im Jugendfreizeitheim machte er natürlich weiter. Sollten die Kinder eben nicht mehr auf seinen Rücken springen! Bei den Radtouren in der Lüneburger Heide fuhr er im Wohnmobil hinterher als Begleitfahrzeug für Gepäck und Proviant. Was er nicht schaffte, nahmen ihm die Mitarbeiter und seine Frau ab, er organisierte dafür umso mehr. Das ging einige Jahre gut, doch 1997 reichte die Kraft zum Arbeiten nicht mehr. Auch im Heim war jetzt vieles anders, es gab immer mehr Probleme mit Jugendlichen, öfter ging etwas kaputt, sie klauten aus den Kühlschränken des kleinen Cafés. Das machte ihm den Abschied leichter.

Er hatte ja das Wohnmobil, seine Reisen, die vielen Schützlinge von früher, die ihn immer wieder ansprachen bei Konzerten und Lesungen, oder ihn besuchten in dem Haus am Stadtrand, in das er mit seiner Frau bei einer alten Freundin eingezogen war, zwei weitere Mitbewohner machten die WG perfekt. Wieder so eine Gemeinschaft, in der man sich ganz selbstverständlich half. Bis zum Schluss.

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