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Berlin: Gerlinde Altenmüller (geb. 1947)

Behindert oder nicht - in der Kunst gab es für sie keine Unterschiede

Schnurgerade führt der Weg durch die Landschaft. Gerlinde geht ihn an einem Samstag einige Meter geradeaus. Sie wendet sich nach links, tritt auf die blühende Wiese, beugt sich hinab zu einer Malve, läuft weiter, bleibt wieder stehen, blickt empor zu einem über ihr kreisenden Milan, läuft weiter.

An einem Sonntag setzt sie sich auf einen Feldstein in ihrem Garten, streicht sich mit den Händen, an denen noch Reste von Erde haften, die Haare aus dem Gesicht und schaut über die wilde Vielfalt.

An einem Tag in der Woche, im Proberaum des „Theaters Thikwa“, breitet Gerlinde weißes Papier auf dem Boden aus, um sie sitzen und stehen Menschen, malen mit Pinseln und Farben Formen auf das Papier, stellen sich dabei ihre Bewegungen, ihr Minenspiel und den Klang der Sätze im Stück „Feder, Meer und Nachtigall“ vor. Die Menschen um Gerlinde sind, wie man so sagt, geistig behindert. Das Stück, inspiriert von dem chinesischen Autor Gao Xingjiang und von Hans Christian Andersen, hat sie für sie erdacht. Ein chinesischer Kaiser beginnt zu weinen, als er eine Nachtigall singen hört. Dennoch verjagt er sie aus seinem Reich, „denn bei der Nachtigall kann man nie berechnen, was da kommen wird“. So sagt er und wird erst im Moment seines nahenden Todes die Grenzen des Künstlichen begreifen.

In dem Stück spielen, wie in allen anderen des „Thikwa“, behinderte und nicht behinderte Schauspieler zusammen. Für den Film „Kroko“, in dem ein 17-jähriges Mädchen 60 Stunden Sozialarbeit in einer WG mit Behinderten ableisten muss, bekamen einige „Thikwas“, wie Gerlinde sie nannte, die Rollen. Und sie spielten nicht sich selbst, sie spielten Behinderte. Das romantische Klischee jedoch, sie seien im Grunde authentischer als die vermeintlich Normalen, lehnte Gerlinde ab. Die Existenz von geistiger Behinderung stellte sie überhaupt infrage. In der Kunst jedenfalls, war sie überzeugt, gibt es keine Unterschiede. So erzürnte es sie, wenn in einer Ausstellung unter dem Bild eines Künstlers zusätzlich zum Namen „Autist“ stand.

Seit seiner Gründung 1990 gehörte es zum Konzept des „Theaters Thikwa“, auf großen Bühnen, im Maxim-Gorki-Theater etwa oder in den Sophiensälen, zu spielen. Diese begabten Menschen sollten nicht nur ihre Freizeit ein bisschen bunter gestalten. Natürlich musste sich Gerlinde auch mit Fragen wie diesen beschäftigen: Wann besteht die Gefahr einer Überlastung? Wann weiß jemand nicht mehr, was er tut? Was ist Intelligenz überhaupt? Was Fähigkeit?

Und im Lauf der Betrachtungen kehrte Gerlinde immer wieder zu ihren eigenen Anfängen zurück. Sie war in Ulm aufgewachsen. Die Familie ihrer Mutter kam aus Lettland, die ihres Vaters aus dem Sudetenland. Der Vater starb, da war sie drei. Sie besuchte eine Waldorfschule. Die anderen, hatte sie beobachtet, lernen schneller als ich. Sie verließ die Schule ohne Abschluss und wurde auf einen Bauernhof in Norddeutschland geschickt. Dort lernte sie, für 40 Leute zu kochen.

Mit noch nicht einmal 18 Jahren ging sie nach Berlin. Hier verknüpften sich die Fäden ihres Lebens, die Suche nach einer künstlerischen Form mit der Entdeckung der vielfältigen Zustände der Seele. Sie studierte Modezeichnung und Industriedesign, ließ sich zur Kunsttherapeutin ausbilden und eröffnete eine Praxis.

Die ersten Inszenierungen des „Theaters Thikwa“ entstanden als Freizeitprojekte. Doch schnell war klar, dass den Schauspielern, die seit morgens um sieben in der Behindertenwerkstatt gearbeitet hatten, nachmittags um fünf die Konzentration fehlte. So entwickelte Gerlinde eine Kooperation zwischen Werkstatt und Theater. Während der Proben zum „Sommernachtstraum“ wurden Installationen zu den Themen Wald, Beziehungen und Irrungen entwickelt. Um Präzision und Geduld ging es hier wie dort, auf der Bühne und in den Ateliers.

Die Zusammenarbeit mit den anderen Theatern wurde schwieriger. Gerlinde fand im „English Theatre Berlin“ einen neuen Partner. Seit 2007 betreiben beide Ensembles die Spielstätte in der Fidicinstraße gemeinsam.

Im November 2011 wurde der Krebs bei ihr entdeckt, im Dezember verabschiedete sie sich von den „Thikwas“. Zwei Tage nach Gerlindes Tod sprachen einige von ihnen über sie. Torsten erzählte: „Sie sagte mir, mach nicht den Doofen. Du kannst das, du musst nicht den Doofen spielen. Du hast es nicht nötig.“ Tatjana Wulfert

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