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Berlin: Gertrud Koellner (Geb. 1919)

Von der Kuh, die ihr und ihren Kindern das Leben rettete, hat sie erzählt

Von David Ensikat

Sie war 25, hatte zwei Kinder, der Sohn ein Jahr alt, die Tochter zwei, als ihr Glück darin bestand, das Fluchtschiff, das sie nach Westen bringen sollte, nicht mehr zu erreichen. Es war der Januar des Jahres 1945, ihre Heimat Ostpreußen war vom Rest des Deutschen Reiches abgeschnitten, wer konnte, floh über die Ostsee. Das Schiff, das sie mit ihren Kindern verpasste, war die „Wilhelm Gustloff“. Es wurde von einem sowjetischen U-Boot versenkt, die meisten Flüchtlinge an Bord kamen ums Leben.

Gertrud mit ihren Kindern gelang die Flucht auf einem kleinen Kutter, der sie nach Wismar brachte. Gertruds Mann, die einzige Liebe ihres Lebens, Vater ihrer beiden Kinder, die er in seinen Urlauben gezeugt hatte, war an der Front ums Leben gekommen. Ebenso ihre drei Brüder. Ob sie sich als Überlebende glücklich schätzte in diesen härtesten Monaten ihres Lebens, allein mit ihren kleinen Kindern in einem Dorf in Mecklenburg? Wovon sie später erzählte, war die Sache mit der Kuh. Ein russischer Soldat hatte das Tier irgendwo konfisziert, und Gertrud kaufte es ihm ab. Der Preis: die goldene Uhr, die sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Die Milch der Kuh rettete ihr und den Kindern das Leben.

Sie lernte Karl Koellner kennen, der allein mit seinen beiden Töchtern war. Für die suchte er eine Mutter und für sich eine Frau, so wie Gertrud für ihre Kinder einen Vater und für sich einen Mann suchte. Das passte, es musste passen. Ob Liebe im Spiel war? Ihr Sohn kann es sich nicht vorstellen.

Die beiden heirateten, Gertrud hatte jetzt vier Kinder und einen Mann, der ein wenig Geld verdiente. Als er eine Stelle auf einem Amt in Schwerin bekam, zogen sie dorthin. Er geriet in politische Bedrängnis, floh nach West-Berlin und nach ein paar Monaten folgte Gertrud mit den Kindern.

Die ersten Berliner Jahre verbrachten die Kinder im Heim, weil die Wohnung der Eltern winzig war. Gertrud lief von Amt zu Amt, um eine größere zugewiesen zu bekommen. In Lankwitz gelang es. Drei Zimmer: eins für den Sohn, eins für die drei Töchter, eins für die Eltern. Dass der Sohn sich lieber an die Zeit im Heim erinnert, liegt an dem Vater, der nicht der Vater von Gertruds Kindern war. Er hatte sehr genaue Vorstellungen davon, was sich gehörte und was nicht. Es gehörte sich nicht, dass die Frau arbeitet, auch wenn das Geld knapp war. Es gehörte sich, sonntags gemeinsam aber eisig schweigend durch den kleinen Lankwitzer Park zu spazieren. Wenn die Kinder etwas taten, das sich nicht gehörte, dann setzte es eins mit dem Rohrstock.

Die Stimmung war nicht gut, damals in Lankwitz, und so kam es, dass der frühe Krebstod von Karl Koellner im Jahr 1959 ein Schicksalsschlag gewesen sein mag, allerdings einer, von dem der Sohn sagt, dass er seiner Mutter nur gutgetan habe. Die zweifache Witwe war 40 Jahre alt und begann ein neues, völlig anderes Leben: ihr Leben, über das sie ganz allein bestimmte.

Die beiden Töchter ihres Mannes waren aus dem Haus, auf ihre eigenen Kinder musste sie nicht mehr aufpassen. So erlebte sie ihr Wirtschaftswunder: Sie fand Arbeit bei der Post, wo sie an der Zusammenstellung der Telefonbücher mitarbeitete und verdiente endlich ihr eigenes Geld; zusammen mit den beiden Witwenrenten war es so viel, dass sie sich, erstmals in ihrem Leben, Urlaubsreisen leisten konnte. Bis dahin hatte sie ihre Kinder immer allein auf Ferienfahrt geschickt. Die erste Reise mit Sohn und Tochter ging ganz zeitgemäß mit dem Bus nach Rimini.

Sie war Mitte 40, als alle Kinder aus dem Haus waren. Gab es keinen neuen Mann in ihrem Leben, weil ledige Männer rar waren, oder weil sie gar nicht danach suchte? Über so etwas sprach sie nicht. Aber allein war sie ja auch nicht. Mit den Kolleginnen von der Post unternahm sie Ausflüge, und einen ganz neuen Bekanntenkreis erschloss sie sich bei den Heimattreffen. Einmal im Jahr trafen sich Ostpreußen-Vertriebene im Steglitzer Restaurant „Elefant“. Gertrud Köhler, die sich für Politik kaum interessierte, ging da sehr gerne hin.

Sehr viel später, da lebte sie schon lange von ihren drei Renten, hätte sie natürlich mal in ihre alte Heimat reisen können. Das hat sie nie gemacht. Was vorbei war, war vorbei. Irgendwann hat sie das alles sowieso vergessen, die Jahre in Ostpreußen, die Flucht, den ersten Mann, den zweiten und die vielen Jahre, die noch folgten.

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