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Berlin: Geschichte wird gesucht

Die Zahl der Berlin-Besucher steigt – immer mehr Touristen kommen vor allem wegen der historischen Anziehungskraft der Stadt

Von Fatina Keilani

und Christoph Stollowsky

Vor dem Haus am Checkpoint Charlie fahren Besucherbusse im Minutentakt vor. In der Topographie des Terrors gibt es neuerdings doppelt so viele Geräte für fremdsprachige Audioführungen als vor zwei Jahren – aber sie reichen noch immer bei weitem nicht aus. Und die Plattform des Aussichtsturmes an der Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße wird von Schülern aus dem gesamten Bundesgebiet regelrecht gestürmt: Berlin hat sich in jüngster Zeit zum Reiseziel erster Klasse für alle entwickelt, die deutsche Geschichte am Ort des Geschehens eindrücklich lernen und begreifen wollen.

Berlin – Stadt der Preußen? der Mauer? der Nazis? des Aufbruchs? Was verbindet man mit Berlin? Alles – zum Beispiel im einstigen Niemandsland der Mauer zwischen Brandenburger Tor und Anhalter Bahnhof. „Irre, was hier seit der Vereinigung aufeinander prallt“, ruft ein Mittdreißiger aus der Pfalz und dreht sich in der Niederkirchnerstraße auf dem Absatz herum. Zu Fuß hat er hier im Karree mit seiner Studienreisegruppe in 15 Minuten den Preußischen Landtag und den Martin-Gropius-Bau aus Kaisers Zeiten gesehen, die einstige Gestapo-Zentrale an der Topographie des Terrors, das Reichsluftfahrtministerium von Hermann Göring und letzte Mauersegmente neben Symbolen des Aufbruchs wie Sonytower und Potsdamer Platz.

„Das fasziniert die Leute“, sagt Hanns Peter Nerger, Chef der Berlin Tourismus Marketing GmbH. Und zwar zunehmend, wie seine Zahlen belegen. Denn inzwischen ist Berlin nach Paris und London die am dritthäufigsten besuchte Metropole Europas (wir berichteten). Durchschnittlich verweilt jeder Besucher 2,3 Tage an der Spree, was andere große Städte mit Neid erfüllt. Im Jahr 2002 gab es in Berlin elf Millionen Hotelübernachtungen, mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Hinzu kamen 25 Millionen Übernachtungen in Privatquartieren, 65 Millionen Tagesbesucher sowie ungewöhnlich viele Schulklassen – und alles mit „steigender Tendenz“, so Hanns Peter Nerger.

Der Tourismus-Experte freut sich über den „extrem guten Mix aus Berlins pulsierendem Kulturleben und dem Magneten Geschichte“. Beides zusammen sieht er als Erfolgsgarantie. Und der Lauf der Zeit hilft ihm dabei. Denn je mehr der Abstand zum Fall der Mauer wächst, umso stärker nehmen viele Menschen den Kalten Krieg und die Wende als Geschichtsereignisse wahr, mit denen sie sich auseinander setzen wollen. Außerdem wird ihnen zunehmend bewusst, dass sie im wiedervereinigten Berlin alle Brüche deutschen Geschichte schon per Kurzurlaub auf einmalige Weise studieren können.

Das beginnt mit der preußischen Vergangenheit, wie die „Interessengemeinschaft Friedhöfe Berlin“ bei Führungen zu alten Grabmalen feststellt. „Da kommen Preußen-Fans aus ganz Deutschland.“ Und das bekommt der Direktor des Gestapo-Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“, Andreas Nachama, öfter denn je zu hören. „Noch Ende der 90er Jahre galten wir eher als Gedenkort“, sagt er. Heute kommen viele, „um das, was sie an Geschichte im Hinterkopf haben, irgendwie in dieser Stadt zu verankern.“ Im Vergleich zu 2002 zählt Nachama in diesem Jahr 20 Prozent mehr Besucher, darunter viele Ausländer.

Dass sich Anstrengungen lohnen, dieses wachsende Interesse zu befriedigen, zeigen auch die Erfahrungen des erst vor fünf Jahren gegründeten Alliierten-Museums in Zehlendorf und der Gedenkstätte Berliner Mauer in Wedding. In der Erinnerungsstätte an die westlichen Besatzungsmächte steigen die Besucherzahlen „rapide“, sagt Museumsleiter Helmut Trotnow. Und an der Bernauer Straße hat der Neubau des Aussichtsturmes den Durchbruch gebracht. Seither erleben die Besucher den erhaltenen Rest des Todesstreifens eindrücklich aus der Vogelperspektive – was sich in den Schulen bundesweit herumgesprochen hat.

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