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Berlin: Gesucht: fehlende Kinder

Von 75 Schülern haben die Ämter keine Spur Neukölln hat reagiert, um solche Fälle zu vermeiden

Von Sandra Dassler

Wolfgang Schimmang glaubte zuerst, nicht richtig gelesen zu haben. Der Volksbildungsstadtrat von Neukölln verfolgt derzeit aufmerksam den Prozess um den Tod des sechsjährigen Dennis, dessen Leiche zweieinhalb Jahre lang in der Tiefkühltruhe der elterlichen Wohnung in Cottbus lag, ohne dass die Schulverwaltung sich nach dem Verbleib des Schülers erkundigte. Aber auch in Berlin fehlt jede Spur von 75 Berliner Kindern und Jugendlichen, die eigentlich die Schule besuchen müssten – das kann harmlose Gründe haben, aber auch auf Vernachlässigung hinweisen. Die Schulverwaltung hat jetzt, wie der Tagesspiegel berichtete, die Bezirke aufgefordert, diese Fälle unverzüglich aufzuklären.

Die Begründung der Cottbuser Schulverwaltung im Dennis-Prozess, man habe keine Mittel, die Schulpflicht durchzusetzen, hat Stadtrat Schimmang bis vor kurzem auch von Mitarbeitern der Schulbehörden in manchen Berliner Bezirken gehört. Erst jetzt gebe es ein Umdenken. Nachdem mehrere Kinder in verwahrlostem Zustand in Berliner Wohnungen aufgefunden wurden, hat sich eine Arbeitsgruppe gebildet, um für alle Bezirke verbindliche Vorgehensweisen zur Durchsetzung der Schulpflicht zu erarbeiten.

Das Neuköllner Modell soll dafür Pate stehen. Schimmang hat nämlich schon seit Jahren seine 70 Schulleiter angewiesen, nicht nur die Mitteilung über eine nicht erfolgte Anmeldung an den ihnen bekannten Sachbearbeiter weiterzuleiten, sondern auch immer wieder im persönlichen Gespräch nachzufragen, was dieser unternommen hat. So bleibt ein Teil der Verantwortung auch weiter beim Schulleiter beziehungsweise Klassenlehrer des Kindes.

Wenn alle weiteren Versuche, die Eltern zu erreichen, fehlschlagen, muss das Jugendamt informiert und das Bußgeldverfahren eingeleitet werden. Das lässt Schimmang nicht durch das Ordnungsamt, sondern durch seine eigene Behörde androhen oder verhängen. Falls dies immer noch keine Wirkung erzielt, wird die Polizei informiert. „Wir müssen dann davon ausgehen, dass Gefahr im Verzuge ist beziehungsweise eine eklatante Verletzung der Erziehungspflicht vorliegt“, begründet Schimmang. Damit könne man notfalls auch ein Eindringen in die Wohnung rechtfertigen.

Das Berliner Schulgesetz lässt alle diese Maßnahmen bereits zu. Auch Brandenburg will den so genannten Schulzwang beschließen. Das brandenburgische Bildungsministerium hat nach dem Fall Dennis Maßnahmepläne an alle Schulen verteilt, die genau festlegen, wer wann etwas zu tun hat. Sie ähneln den Anweisungen, die Neukölln erlassen hat und sollen vor allem verhindern, dass sich die eine Behörde auf die andere verlässt und dass Schulleiter keine ärztlichen Atteste oder andere Belege für das Fernbleiben der Schüler fordern.

Immer größere Bedeutung – da sind sich Lehrer und Sozialarbeiter einig – kommt auch der ärztlichen Untersuchung vor der Einschulung zu. Damit könne der körperliche und geistige Zustand eines Kindes sehr gut bewertet werden. Da es keine Pflicht gibt, die Kinder ärztlich untersuchen zu lassen, ist die Schuluntersuchung manchmal die erste Gelegenheit, bei der Ärzte ein Kind wieder zu Gesicht bekommen. Der kleine Dennis beispielsweise war das letzte Mal im Alter von eineinhalb Jahren beim Arzt. Da wog er 9650 Gramm. Genauso viel wie bei seinem Tod – vier Jahre später.

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