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Corpus delicti. Gewaltprävention an Berlins Schulen ist nötig, deshalb hat die Polizei eine „operative Gruppe“ eingesetzt. Sie soll Attacken verhindern helfen. Foto: ddp

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Gewaltprävention: Erfolg ist nur schwer messbar

Einer der Lichtenberger Verdächtigen hatte ein Präventionsprojekt der Polizei besucht. Dennoch sehen die Beamten ihre vorbeugende Arbeit als notwendig und erfolgreich an.

Bei ihm zeigte der Kurs offensichtlich keine Wirkung. Ausgerechnet ein 17-jähriger Teilnehmer einer Präventionsveranstaltung wurde nach dem brutalen Überfall am U-Bahnhof Lichtenberg als erster der vier Tatverdächtigen identifiziert, die zwei Männer attackiert und einen der beiden lebensgefährlich verletzt haben sollen. Wie berichtet, hatte ein Polizist der Operativen Gruppe Jugendgewalt (OGJ) auf dem Überwachungsvideo den Jugendlichen wiedererkannt. Nun liegt die Frage nahe, wie effektiv das polizeiliche Engagement wirklich ist.

„Wir sind bei der Prävention gut aufgestellt und sehen uns auf einem guten Weg“, versichert Volker-Alexander Tönnies von der Zentralstelle für Prävention. Taten wie die in Lichtenberg seien Einzelfälle. Auch Polizeipräsident Dieter Glietsch misst der Präventionsarbeit eine „herausragende Bedeutung“ bei: „Während die Jugendgewaltkriminalität im letzten Jahrzehnt bundesweit starke Zunahmen verzeichnet, ist das in Berlin nicht der Fall. In der Jugendgruppengewalt haben wir sogar deutliche Rückgänge.“ 

Im betreffenden Zeitraum habe man die Zahl der hauptamtlich in der Prävention eingesetzten Mitarbeiter um 50 auf 200 erhöht. Die Koordination übernehmen Tönnies und Kollegen, sei es im Bereich häusliche Gewalt, Sicherheit von Senioren, Verkehrssicherheit oder eben Gewalt bei Kindern und Jugendlichen. In jeder der sechs Direktionen stimmt ein Beamter die Präventionsarbeit ab. In den 38 Abschnitten gibt es seit 2003 Präventionsteams, die aus einem Fachmann für Verkehrssicherheit und einem für Kriminalprävention bestehen. Diese sind auch für Veranstaltungen an Schulen zuständig. Unabhängig von Tönnies’ Präventionsbeamten kümmert sich in jeder Direktion die Operative Gruppe Jugendgewalt um die Aufklärung von Jugendgewalt und deren Vorbeugung.

„Jeder Schüler sieht uns in seiner Schulzeit mindestens dreimal“, sagte Tönnies – einmal in der Grundschule, zweimal in der Oberschule. Drei Stunden dauern die Anti-Gewalt-Veranstaltungen. Bodo Pfalzgraf vom Polizeiabschnitt 13 in Pankow ist Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft Berlin und geht seit sieben Jahren in Schulen und Jugendeinrichtungen des Bezirks. Mit Schülern der Klassen 5 bis 9 erarbeitet er, was Gewalt ist, wie Gefahren zu erkennen sind und wie man sich schützen kann. Die Kinder müssen die Schwere verschiedener Delikte wie Mord oder Beleidigung einschätzen und werden über die Folgen von Straftaten aufgeklärt. Pfalzgraf spricht ebenso über sicheres Verhalten in der Öffentlichkeit wie über zivilrechtliche Ansprüche, also Schmerzensgeld und Schadensersatz. Grundschüler der 5. und 6. Klasse werden bei einem Brettspiel an das Thema Gewaltprävention herangeführt. Bei dem eineinhalbstündigen Rollenspiel begleiten sie die Comicfiguren Lilly und Mo durch den Tag und lernen, gewaltfrei mit verschiedenen Situationen umzugehen, ob bei Mobbing auf dem Schulhof, Beleidigungen oder dem „Abziehen“ von Mobiltelefonen. Ausgedacht hat sich das Spiel Andreas Berger, Präventionsbeauftragter des Abschnitts 15 in Prenzlauer Berg, gemeinsam mit Kollegen. Während es bei den Älteren konkret um Konflikte geht, die sie schon selbst erlebt haben, müssen Erst- und Zweitklässler behutsamer an das Thema herangeführt werden: spielerisch mit der Bärenpuppe „Brummi“. Neben dem Anti-Gewalt-Training können Schulen die Beamten anfordern, um zu individuellen Themen aufzuklären. Der Bedarf sei da, sagt Pfalzgraf, Anfragen bekomme er jeden zweiten Tag. Immer aktuell seien Waffen, Diebstahl und Mobbing, das Topthema seien aber die neuen Medien und alles, was mit dem Internet zu tun habe.

Pfalzgraf und seine Kollegen besuchen vor allem Schulen, mit 191 hat die Polizei Kooperationsverträge. Darüber hinaus gibt es Sonderprojekte, die meist von Einzelpersonen oder Schulen initiiert werden. In Spandau gehen Polizisten mit Jugendlichen auf Patrouille und sprechen andere Jugendliche an. Den Anstoß dazu gab ein SPD-Abgeordneter des Bezirks vor vier Jahren. In Pankow und Reinickendorf machen Schulklassen Radtouren in Parks, wo sie innerhalb eines Wettbewerbs über Gewaltprävention und Verkehrssicherheit lernen. In Lichtenberg riefen im Jahr 2007 Beamte der OGJ der Direktion 6 und Lehrer der „Schule am Rathaus“ das Projekt „Gemeinsam Leistung zeigen“ ins Leben. Diese Schule besuchen der 17-Jährige wie auch ein zweiter der vier Lichtenberger Tatverdächtigen. Das Projekt wurde gegründet, weil es „besondere Auffälligkeiten“ in zwei neunten Klassen gab, sagte ein Polizeisprecher. Das übliche Angebot habe nicht ausgereicht. Zu Beginn des Schuljahres aber zog sich die Polizei aus dem Projekt zurück. Es wurde von herkömmlichen Angeboten abgelöst, weil sich die Situation verbessert habe, teilte die Polizei mit. Zudem fehle für derlei Sonderprojekte auf Dauer das Personal.

Bereits nach zwei Jahren hatte es Ärger gegeben: Beamte, die das Projekt mitgegründet hatten, wurden, einem polizeiinternen Rotationsprinzip folgend, versetzt. „Eine notwendige Maßnahme im Rahmen der Personalentwicklung, die Qualität und Umfang der Präventionsarbeit nicht beeinträchtigt“, heißt es offiziell. „Prävention braucht Gesicht“, entgegnet Gewerkschafter Pfalzgraf. Um das mühsam aufgebaute Vertrauen nicht zu zerstören, sollten dieselben Leute Ansprechpartner bleiben. Kritik kommt auch vom Bund Deutscher Kriminalbeamter: In Bereichen wie Jugendgewalt und Prävention sei Rotation nicht sinnvoll, sagte Landesvorsitzender Michael Böhl. Einarbeitung und Vertrauensaufbau dauerten Jahre.

Einer der Polizisten, die das Projekt ins Leben riefen, hat mittlerweile eine andere Lichtenberger Dienststelle und fährt dort Streife. Er findet gute Worte für die Rotation: Nach so vielen Jahren bei der OGJ habe er sich Gedanken gemacht, ob er für die Jugendlichen nicht langsam unglaubwürdig werde. Prävention sei sowieso nicht messbar. Dass der Überfall ohne Rotation hätte verhindert werden können, glaubt er nicht. Mit einem der Beschuldigten habe er einmal zusammengearbeitet. Den Jungen beschreibt er als „schwierig“, er habe vermutlich viele negative Erfahrungen machen müssen, ein Zugang zu ihm sei nur schwer möglich gewesen. Die Kinder hätten ein Unrechtsbewusstsein, nur könnten sie das oft nicht umsetzen. Der Polizist prangert vielmehr das Verhalten der Passanten im Lichtenberger U-Bahnhof an: „Wenn die Leute zum Handy greifen würden, hätten die schweren Verletzungen vielleicht verhindert werden können.“ Zudem glaubt er, dass die Schüler nicht ohne Grund ausgerastet sind. „Da muss noch irgendwas passiert sein.“

Trotz des Vorfalls: Die Präventionsarbeit sei erfolgreich, sagte Tönnies. Noch vor Jahren sei die Zusammenarbeit zwischen Polizei und Schulen nicht derart selbstverständlich gewesen. 2000 Anti-Gewalt-Veranstaltungen gebe es pro Jahr. Wirklich messbar ist die Arbeit allerdings schwer. „Wir zählen ja nicht die nicht begangenen Straftaten“, sagt Gewerkschafter Pfalzgraf. Wenn eine Schule das Angebot für alle Klassenstufen wahrnehme, verbessere sich das Klima aber deutlich. Um Erfolg oder Scheitern der Präventionsarbeit besser messen zu können, hat die Polizei den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie der Freien Universität mit ins Boot geholt. Eine Studie soll im kommenden Schuljahr beginnen.

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