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Berlin: Gisela Rothkegel: Eine Frage des Ansehens

Dagmar hat wieder eine Wohnung. Es geht ihr richtig gut, sagt sie.

Dagmar hat wieder eine Wohnung. Es geht ihr richtig gut, sagt sie. Jetzt hat sie Probleme, die jeder kennt: "Gestern habe ich endlich reinen Tisch mit meiner Exfreundin gemacht. Jetzt wollen wir uns wieder ab und zu auf einen Kaffee treffen." Vor einem Jahr hatte Dagmar noch andere Sorgen. Damals war die ganze Stadt die Wohnung der heute 30-Jährigen. Die Tage verbrachte sie meist auf dem Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche, für die Nacht suchte sie sich mit ihrem Schlafsack einen trockenen U-Bahn-Schacht. Bei großer Kälte ging sie in eines der Berliner Frauenhäuser. Ihren Besitz, den sie in einer Plastiktüte herumtrug, konnte sie auf einem DIN-A5-Zettel aufzählen.

Dagmar ist eine von 22 Menschen in Berlin, deren Alltag ohne feste Bleibe die Fotografin Gisela Rothkegel eineinhalb Jahre lang begleitete. In fünf Heften, von denen jedes das Leben auf der Straße in einem eigenen Aspekt behandelt, ist daraus die Foto- und Text-Dokumentation "OFW - Ohne festen Wohnsitz" entstanden. Jetzt präsentierte die Berliner Künstlerin ihre Arbeit, ein Diplomprojekt der Freien Kunstschule Berlin, im Foyer der Gedächtniskirche. Ehrengäste waren die Protagonisten ihrer Dokumentation.

"Ich möchte den Obdachlosen etwas zurückgeben, das ihnen viele aberkennen", sagte Rothkegel: "Das Ansehen." Im wörtlichen Sinn: Als sie vor einem Jahr für einen Tag in die Rolle der Verkäuferin einer Wohnungslosenzeitung geschlüpft sei, habe sie selbst gespürt, welche Erniedrigung es bedeute, nicht mehr angesehen zu werden. "Sobald ich in der U-Bahn die Zeitung anpries, senkten alle den Blick. Das war sehr erniedrigend." Mit ihrem Kunstprojekt hat sie jetzt sogar mehr erreicht, als den Wohnungslosen Respekt zu verschaffen: Sie hat ihnen ein Forum geschaffen, hat sie zu "öffentlichen Persönlichkeiten" gemacht, so Ruth Keseberg-Alt vom Berliner Caritas-Verband.

Die Obdachlosen selbst danken es der Künstlerin. "Super, dass sie sich uns als Thema ausgesucht hat", sagt zum Beispiel Wolfgang Koch. Als Künstlerin hätte sie sich ja auch etwas Schöneres suchen können, findet der 41-Jährige der seit zwanzig Jahren auf der Straße lebt.

Dabei habe sie sich zunächst sehr ungeschickt angestellt, als sie vor zwei Jahren mit der Kamera um den Hals loszog, gibt Rothkegel selbst zu. Der 52-jährige Herbert Rudolf bestätigt: "Zuerst dachte ich, was will die von mir. Sie hat doch keine Ahnung von Obdachlosigkeit." Doch Rothkegel wollte auch nichts erzählen, sondern etwas erfahren - und das auf ganz unaufdringliche Weise. "Sie hat Fragen gestellt, die Antworten aber nicht eingefordert. So konnte ich ohne Zwang meine Probleme bei ihr loswerden", erzählt Dagmar. Jetzt, da sie nicht mehr auf der Straße leben müsse, helfe sie selbst wohnungslosen Frauen. Ihre Mitarbeit an dem Kunstprojekt habe ihr einen Teil der Kraft für diese Arbeit gegeben, sagt Dagmar. MATHIAS WÖBKING

Gisela Rothkegels Fotos sind bis zum 6. Dezember in der Buchhandlung Hugendubel, Tauentzienstraße 13, ausgestellt. Für 48 Mark kann man dort sowie bei Kiepert in der Hardenbergstraße 4/5 auch einen Schuber mit den fünf Heften kaufen. Der Erlös kommt der Ambulanz für Wohnungslose in der Jebenstraße 3 zu.

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