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Berlin: Glockenspiel und Gratishefte

Am Gendarmenmarkt wurde am Einheitstag ein besonderes Instrument gefeiert Auf der Straße des 17. Juni machten Werbung und Wurstbuden das Programm

Schiller und seine Brunnenfrauen vor dem Konzerthaus mussten den Tag der Deutschen Einheit hinter grauen Bauplanen verbringen. Doch davon abgesehen präsentierte sich der Gendarmenmarkt an diesem 3. Oktober vollendet: Die Gerüste am Französischen Dom sind verschwunden, die äußerliche Renovierung ist geschafft. Gründe genug, einen Ableger der Einheitsfeier hierher zu verlegen.

Im Dom gab es einen weiteren Anlass zum Feiern: Seit wenigen Tagen funktioniert Berlins größtes Glockenspiel wieder. Es hängt ohne weitere Stützen im Inneren der Kuppel. Frank Müller hat einen spektakulären Arbeitsplatz, nur kann der Glockenspieler diese Erfahrung vorerst nicht teilen, denn der Aufstieg bleibt wegen Bauarbeiten noch mehr als ein Jahr gesperrt: Mit dem Fahrstuhl geht es in die vierte Etage, dann rund 200 Stufen bis zur Balustrade und über eine schmale Wendeltreppe zum Pult, das unter den 60 Glocken hängt. Die letzten Meter führen vom Rand der Kuppel zur Mitte über einen Steg, auf dem Menschen mit Höhenangst wohl sterben würden. Hier sitzt Frank Müller am Pult und spielt. Zwei Reihen Tasten für die Hände, zwei für die Füße – die Anlage ähnelt einer Orgel. Nur dass sie samt ihrem Bediener über dem 40 Meter tiefen Abgrund hängt und die Handtasten mit den Fäusten bedient werden müssen: Glockenspiel ist Handarbeit.

Eingebaut wurden die Glocken 1987; an manchen ist noch das DDR-Logo „750 Jahre Berlin“ erkennbar. Es passt zum Tage – so wie der ganze Ort hier oben, von dem aus sich durch acht runde Fenster die Stadt beschauen lässt: Potsdamer Platz und Reichstagskuppel im Westen, der Fernsehturm mit den letzten pinkfarbenen WM-Fußball-Sechsecken im Osten. Und wenn man näher ans Fenster geht, sieht man unten Touristen flanieren und Reisebusse kriechen. Das alles lässt ahnen, was die Stadt an der Einheit hat.

Gar nicht gedankenschwer war das Einheitsfest hinterm Brandenburger Tor, wo auf der Hauptbühne zwischen den Auftritten von Blas- und Popmusikern für Handyverträge geworben wurde, während ringsum Karussells unterschiedlicher Größen rotierten und Musik aus allerlei Live-Quellen und Konserven sprudelte. Wer aus einem fernen Land hierher geriet, erlebte die Deutschen als gut gelaunte Menschen, die Einweggeschirr auch längere Strecken bis zum nächsten Mülleimer tragen, zur Bratwurst („½ Meter 3 Euro“) ebenso Ja sagen wie zum Flammkuchen, aber den Ledergürtelstand („3 Stück 10 Euro“) links liegen lassen. Rings um die Bühne erinnerte eine schwarz-rot-goldene Wurst aus Luftballons an den Anlass, auf dem Mittelstreifen warben zwei Frauen vom Tourismusverein Treptow-Köpenick für den Bezirk. „Unsere Gratis-Prospekte gehen weg wie nichts“, berichteten sie. Aber die Faltblätter und Karten für 50 Cent, die lägen wie Blei. Dabei sei der Dienstag der beste Tag des ganzen langen Wochenendes. Nach Auskunft der Veranstalter kamen Hunderttausende zum Einheitsfest.

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