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Glosse von 1990: "Jrün-Pfeil - find ick dufte!": Ein sozialistisches Relikt sorgt für Trouble im Senats-Verkehr

Im Umbruch wurden auch die Straßenschilder in Berlin gestürmt. Die Tagesspiegel-Redakteure Lorenz Maroldt und Stephan Wiehler glossierten 1990 in der Ost-Berliner Zeitung „Neue Zeit“ unter Pseudonym denRichtungsstreit um den Grünpfeil.

Berlin, 10. Januar 1990. Ein schwerer Autounfall an der Kreuzung Karl-Liebknecht-Straße, Ecke Spandauer Straße. Bausenator Wolfgang Nagels Dienstmercedes hat den Verkehrssenator, der auf seinem Fahrrad unterwegs ist, beim Rechtsabbiegen voll erfasst. Horst Wagner wird im hohen Bogen über die Fahrbahn geschleudert und bleibt schließlich an einem grünen Abbiegepfeil hängen, der ihm zwar das Leben rettet, aber den Maßanzug zerreißt.

Ausgerechnet an einem jener Pfeile, die er in treuer Ergebenheit der Anweisung des Bundesverkehrsministers gehorchend und im Glauben an eine einheitliche, gerechte und freie Straßenverkehrsordnung beseitigen lassen will. Und die der Bausenator, der für Auf- und Abbau von Ampelanlagen zuständig ist, in der Hoffnung auf einen freien Verkehrsfluß nicht nur erhalten, sondern flächendeckend über Kreuzungen in Ost wie West verhängen möchte.

Um den Unfallort scharen sich Berliner Bürger, die wild gestikulierend das Für und Wider eines der letzten sozialistischen Relikte diskutieren: „Geschieht ihm ganz rechts“, giftet der arbeitslose Taxifahrer Rudolf G., PDS-Genosse aus Friedrichshain, in die Runde. Ein Kreuzberger Naturkosthändler, Mitglied des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs, versucht ihn zu beschwichtigen: „Du, die Dinger sind doch irgendwie eine echte Kriegserklärung an uns Radfahrer!“ Ein frisch eingezogener Bundeswehrsoldat steigt verschwitzt aus seinem Manta und schaut dem Radler auf den Sattel: „Jrün-Pfeil – find ick durfte, is det klar!“. Zufrieden nickt ihm ein dicker Lkw-Fahrer zu, der mit offener Hose und rotem Kopf an seiner Blutwurststulle kaut.

Rentnerin Käthe B., aus dem Feierabendheim „Maxim Zetkin“ in Marzahn geflüchtet, hat von allem nichts mitbekommen. Ihr versperrt nur der dunkle Mercedes den Weg. Ärgerlich knickt sie dem Wagen die Antenne ab.

Mittlerweile sind Kamerateams am Unfallort eingetroffen, Kinder tanzen Ringelreihen um des Senators Unglücksrad, ein Andenkenhändler verkauft Polaroids vom Dienst-Daimler. Bausenator Nagel verteilt lächelnd Autogramme und gibt Interviews. Werner Z., Zapfer aus dem Wedding, baut seine Bierbude mit dem Namen „Zum Grünen Pfeil“ auf. Eine Band spielt den Evergreen „Es grünt so grün …“

Langsam kommt Verkehrssenator Wagner wieder zu sich und bezeichnet das Verhalten Nagels als „unzulässige Kompetenzanmaßung“. Während er sich an der Lichtzeichenanlage herabhangelt, kündigt er verprellt an, noch am selben Tag von seinem Amt zurückzutreten.

Roger Rettich/Tom Toast

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