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Berlin: Großer Bahnhof

Berlin hat eine neue Attraktion. Zehntausende kamen gestern zum Schauen, Staunen – und Shoppen

„Geil“, sagte bei der Einfahrt im Hauptbahnhof gestern ein Steppke zu seinen Eltern. „Cool“, urteilte wenig später seine Mutter beim Ausstieg am Gleis 14. „Schwindlig darfste aber nicht sein“, stellte wenige Meter weiter eine alte Dame fest und ging vorsichtshalber einen Schritt vom Geländer zurück. Die Geländer sind gläsern, und wenn man in luftiger Höhe daran lehnt und tief in die funkelnagelneue Berliner Attraktion blickt, kann schon der Eindruck entstehen, man schwebe sozusagen ohne Halt über dem Gewimmel unter einem. Gegen Mittag schoben sich bereits Zehntausende Besucher durch den gläsernen Bahnpalast und stürmten die Geschäfte auf allen Ebenen, deren Anordnung sich gestern beim ersten Besuch noch nicht erschloss.

So wurde eher wahllos gestürmt, was einem beim Rauf- und Runterfahren auf einer der 54 Rolltreppen oder in den permanent überfüllten sechs Panoramaaufzügen vors Auge kam. „Bekomme ich bei Ihnen eine Auskunft?“, fragte im Reisezentrum ein Mann an einem Stand mit Prospekten über das Berner Oberland. „Nur über die Schweiz“, antwortete im nettesten Schwyzerdütsch die junge Frau. Wo die Toiletten waren, konnte sie einer anderen Fragerin auch nicht sagen. „Ich bin nicht von hier“, bedauerte die Schweizerin. Dabei waren die Örtchen nicht zu übersehen – die Schlangen wanden sich gestern schier endlos.

Die Geschäfte des Bahnhofs kamen gestern gut auf ihre Kosten: Ob Schuhe, Blusen, Kleider, Hosen, Parfüm, Apotheken- und Drogeriebedarf, Schmuck, Käse, Nudeln – die Besucher kauften. Der Hauptbahnhof wurde also gleichzeitig als neues großes Einkaufscenter angenommen. Immerhin bis 23 Uhr will „Kaiser’s“ Einkaufsnöte beheben – die Schlange vor dem Supermarkt galt gestern aber den verteilten Gummibärchen. Nur Josef Diekmanns Austernbar hinkte mittags hinterher – sie war geschlossen. Ob sie mal wie die Austernbar in der Central Station von New York eine gastronomische In-Adresse des Hauptbahnhofs wird, muss deshalb offen bleiben. Wer es vom oberen S-Bahngleis bis ganz nach unten schaffte, konnte im „Rheingold“ dinieren – falls er im nostalgischen Salonwagen des Zuges Platz fand, der 1928 gebaut wurde und zwischen Hoek van Holland und Basel verkehrte.

Für den Abend hatte die Bahn dann die Kölner Rockgruppe BAP engagiert, wegen des Regens zog es aber nur rund 1000 Zuhörer nach draußen vor die Bühne. „Es gibt hier in diesem Land in letzter Zeit unglaublich viel Hass“, spielte Sänger Wolfgang Niedecken auf die Bluttat vom Vorabend an. „Es ist Zeit, dass wir dem gemeinsam etwas entgegensetzen.“ Zum Beispiel „Wahnsinn“, die erste Single der Band und der erste Song des Abends – die kölsche Coverversion von „Wild Thing“.

Auch an anderen Bahnhöfen wurde gestern groß gefeiert. Am Südkreuz ebenso wie am Potsdamer Platz oder am Gesundbrunnen. Bereits am Abend zuvor, viele Stunden vor dem Amoklauf des 16-Jährigen, war das Gedränge groß. Wie Lemminge pilgerten die Menschen die Spree entlang, um sich den großen verglasten Stahlbahnhof anzuschauen. Manche kamen mit Chipstüten, andere mit Sixpacks Bier, viele hatten ihre Videokameras mitgenommen. Spätestens ab 21 Uhr waren die besten Plätze vergeben, die Moltke-Brücke war überfüllt, im Spreebogenpark war kein Gras mehr zu sehen. Dann endlich, gegen 22.30 Uhr, verschwand der Bahnhof in der Dunkelheit. „Sieben, sechs, fünf ...“, der Countdown. Raketen zischten in den Himmel, der Strahl der Scheinwerfer durchbrach die Nacht, „Oooohs“ und „Aaaaahs“ waren zu hören. Nach Minuten des Staunens war es vorbei, ein Song von „Seeed“ wurde gespielt, viele liefen zu ihren Autos. Und standen überall im Stau. Da haben die Berliner wieder gemeckert. Mitarbeit: jk

Heidemarie Mazuhn, André Görke

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