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Großstadtdreck: „Keine Ecke in New York ist so dreckig wie der Fußweg der Chausseestraße“

Tolerant und lässig – oder nur gleichgültig? Ex-BDI-Chef Henkel will nicht dulden, dass Berlin so schmutzig ist. Moderator Kuttner zeigt dagegen Verständnis für die Mentalität der Berliner.

Sieben Wochen lang war der Großstadtdreck auf Berlins Bürgersteigen gnädig unter Schnee und Eis verborgen, und fast wünscht man sich angesichts der vermüllten Stadt die weiße Decke wieder zurück. Nachdem zahllose Berliner so lange unter den katastrophalen Zuständen gelitten haben, mangelnden Gemeinsinn und Ignoranz beklagten und nach Engagement und Bewusstseinswandel sowohl bei der Stadt wie bei den Bürgern riefen – werden diese Aufreger so schnell vergessen sein wie der Schnee geschmolzen ist? Oder könnte mit einem gründlichen Frühjahrsputz auch das Umdenken für eine saubere Stadt beginnen?

„Ich glaube nicht, dass in Berlin jemals Stuttgarter Verhältnisse herrschen oder die Kehrwoche eingeführt wird. Wir leben in der einzig wahren Großstadt Deutschlands, und zu einer Metropole wie dieser gehört eben ein gewisses Maß an Unsauberkeit und Chaos“, sagt Rolf Lindner, Professor für Stadtethnologie an der Humboldt-Universität. Der leichtfertige Umgang mit der Umwelt und eine „Mir-doch-egal-Haltung“ könnten zu den Motiven zählen, weshalb es viele Menschen überhaupt nach Berlin zieht. „Hier suchen viele Anonymität und vielleicht auch die Erlaubnis, sich gehen lassen zu dürfen“, meint Lindner. Kann das erklären, weshalb im Sommer in manchen Parks vor lauter Grillmüll kaum noch Rasen zu sehen ist und dass, wie der Senat für 2008 ausrechnen ließ, jedes Jahr rund 150 Millionen Hundehaufen liegen bleiben? Und muss, wer die toleranten Qualitäten der Stadt genießen will, dies einfach als „eben typisch Berlin“ hinnehmen?

Das will Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, der unter anderem lange in Paris und Kalkutta gelebt hat, auf keinen Fall. „Berlin hat ein Verwahrlosungsproblem, die ungeräumten Gehwege waren bloß ein Teil davon. Müll, Hundekot und Schmierereien gibt es das ganze Jahr“, sagt der 69-Jährige, der in Mitte wohnt. Er erwarte, dass der Senat aus seiner Lethargie erwache und die „galoppierende Verwahrlosung“ zur Kernaufgabe mache. „Wenn ich Regierender Bürgermeister wäre, würde ich an der Proletarisierung Berlins sofort etwas ändern. Denn keine Ecke in New York ist so dreckig wie der Fußweg in der Chausseestraße“, so Henkel aufgebracht. Angesichts der heftig geführten Debatten um die mangelnde Gehwegräumung glaubt Stadtethnologe Lindner jedoch, dass ein „Zivilisierungsprozess“ im Gang sein könnte. Auch der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann prophezeit zumindest für den nächsten harten Winter Besserung: „Warum greift jeder Züricher bei Schnee sofort zur Schippe? Weil er aus vielen Jahren weiß, dass er eines langen schneereichen Winters nur so Herr werden kann“, sagt der 66-Jährige.

Was der aus London stammende Musiker Colin Brown, der heute in Kreuzberg wohnt, über das Leben in der britischen Metropole berichtet, unterstreicht die Bedeutung eines steten „Wintertrainings“: „Wenn uns in London mal ein strenger Wintereinbruch überraschte, waren alle komplett hilflos: Der Verkehr brach zusammen, Schulen schlossen, Heizungssysteme fielen aus“, erzählt der 45-Jährige. Im Vergleich dazu hätte Berlin in diesem Ausnahmewinter noch gut da gestanden. Auch wenn er sich die Stadt bei aller Wertschätzung der hier gelebten Gleichgültigkeit selbst manchmal sauberer wünscht.

„Aber wir können das eine nicht ohne das andere haben”, sagt Jürgen Kuttner. „Die Stadt war nie so preußisch, wie manche gern behaupten. Und der plebejische Schlendrian steht einfach für eine Form sympathischer Lässigkeit.“ Der in Ost-Berlin geborene Kulturwissenschaftler, Moderator und Autor lebt seit vielen Jahren in Prenzlauer Berg, überlegt aber, ob er wegen des „angenehm proletarischen Großstadtflairs“ nicht lieber bald nach Wedding zieht. Selbst für die zahllosen Hundehaufen hat der 52-Jährige eine verständnisvolle Erklärung: Schließlich würden viele junge Neu-Berliner von der Stadt angezogen. „Und wenn sie dann einsam in der Stadt rumhängen, kaufen sie sich als Gefährten einen Hund. Mit den Folgen müssen wir leben und einfach besser auf unsere Schritte achten“, sagt Kuttner mit gewohnt schnoddriger Ironie. Sich mit den schmutzigen Seiten des Lebens abfinden, weil die Erfahrung zeigt, dass sich nur selten etwas ändert – ist das Humor made in Berlin? Eva Kalwa

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