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Großveranstaltung: Anti-Atomkraft-Demo: Ende der Geduld

Mehr als 120.000 Menschen protestieren im Tiergarten gegen die Atompolitik der Bundesregierung. Mütter kommen mit Babys, Schüler mobilisieren per Facebook und AKW-Opas erinnern an Tschernobyl.

Es ist der Moment der Stille, der alle eint – die jungen Mütter, die grau gewordenen Aktivisten, die schon in Brokdorf dabei waren und die Schüler, denen kürzlich noch der Anti-AKW-Button fremd war. Jetzt sind sie alle hier. Weit mehr als 120 000 Menschen gedenken der Opfer in Japan zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor. „Verantwortung heißt abschalten“, wird von der Bühne in Richtung des nahen Kanzleramtes gerufen – dafür sind die vielen Familien mit Babys oder die Rentner gekommen. „Die Alten müssen sich zeigen“, sagt der 66-jährige Waldemar B. aus Gropiusstadt, parteilos und unorganisiert, aber von Fukushima alarmiert: „Das müssen wir für unsere Kinder tun.“

„Das Thema ist doch durch“, hat Claudia K. bis vor kurzem geglaubt. Ein wenig bitter klingt es und wütend zugleich. Die 45-jährige Physiotherapeutin ist mit Mann und ihren drei kleinen Kindern dabei. Als Tschernobyl explodierte, da machte sie gerade Abitur. Nun geht sie wieder auf die Straße. Wie Annegret S. Damals hatten ihre Eltern die Siebenjährige mitgenommen, nun hat sie ihre beiden Kleinkinder dabei. „Ich hatte damals Angst. Und jetzt wieder“, sagt sie.

Unsere Warnungen waren berechtigt, sagen die, die damals dabei waren, im Frühjahr 1986, als die radioaktive Wolke über Deutschland zog. Nie wollten sie recht behalten und erleben doch wieder die gleiche Katastrophe. „Wir müssen doch was tun“, sagt Heike A., die damals in Kalkar demonstrierte. Nun hat sie ihren 13-jährigen Sohn Tizian dabei, während eine Frau im Schutzanzug den simulierten Geigerzähler fiepen lässt.

Verwaiste Spielplätze, ungenutzte Liegewiesen im Tiergarten, leere Schwimmbäder trotz sonnig-warmer Tage. An den Frühling, als der Alltag aus den Fugen geriet, erinnern sich die Veteranen von damals genau. Wie die ersten Meldungen über die Explosion erst Tage später kamen, weil die Sowjetunion die Katastrophe verschwieg. Wie die Radioaktivität zu einem Teil des Lebens wurde. Davon erzählen sie auf dem Marsch, als es unter Pfiffen vorbei geht an der CDU-Bundeszentrale. Wie Helmut Kohl den ersten Bundesumweltminister berief, ausgerechnet Walter Wallmann, einen glühenden Atom-Fan. Niemand im Zug glaubt, dass das Moratorium für die Altmeiler der Einstieg in den endgültigen Ausstieg ist. Auch nach Tschernobyl schien die Atomkraft am Ende, erinnert sich einer, der bei der Schlacht um Brokdorf dabei war. Ein halbes Jahr danach aber ließ die Bundesregierung das AKW ans Netz gehen. Es soll noch bis 2018 Strom liefern.

Tschernobyl ist für die vier Mädchen aus Kleinmachnow nur Geschichte. Die 15-jährige Johanna hat darüber gelesen; ihre Freundin Felina hat ein Radioaktiv-Zeichen aufs Gesicht geschminkt. Wir lesen keine „Bravo“, sagen die Vier fast empört, doch dass die Zeitschrift erstmals keinen Star aufs Poster druckte, sondern das Anti-Atom-Logo, finden sie okay. „Wenn es Jugendliche dazu bringt, auf die Straße zu gehen – warum nicht.“

Es war 1986 eine neue Erfahrung, plötzlich keine Minderheit mehr zu sein, sondern zu erleben, wie die Angst das ganze Land erfasst, erzählt Barbara B. Hilflos und ohnmächtig unter der Wolke, das waren plötzlich alle. In Berlin blieb das frische Gemüse liegen und der Spargel verdorrte; dafür kauften die Menschen lieber alte Kartoffeln – vor dem Unfall geerntet. Von einem Tag auf den anderen waren Nährwerte egal, war die Bequerel-Belastung von Lebensmitteln entscheidend. Berlins Strahlenmessstelle prüfte im Akkord Lebensmittelproben – von Pilzen, Quark bis Schnittlauch. Beruhigen konnte das niemand, vor allem nicht Eltern. Frischmilch war unverkäuflich; dafür griff man zur zuvor geschmähten H-Milch. „Tschernobyl ist überall“, das war nicht nur eine Demo-Parole, sondern galt für den Gang in den Supermarkt. Auch der Tagesspiegel veröffentlichte täglich getreulich die Strahlenbelastung von Lebensmitteln und die Kontaminierung des Bodens durch radioaktives Jod und Cäsium.

Versteht die Generation Fukushima, wie die Älteren damals fühlten? Tschernobyl war entscheidend für den Aufstieg der Grünen. Der japanische GAU könnte eine Altersgruppe politisieren, über die Jugendforscher eh sagen, sie sei stärker interessiert an Umweltfragen als früher. Tomek, 13, und Fabian, 12, aus Lichtenrade wissen, dass ihre Eltern damals auf die Straße gingen. Wir sind hier, damit sich was ändert, sagt Tomek und nestelt an seiner Fahne; seine Oma ist mitgekommen. Viele Schüler haben in den letzten Wochen neue Worte wie Kernschmelze und Restrisiko gelernt oder das Buch „Die Wolke“ gelesen. Die Jungen sind anders organisiert. Sie brauchen keine Flugblätter, sie haben sich über Facebook oder Twitter verabredet. „Wir müssen der Atomkraft ein Ende setzen“, damit hätten sie massenweise im Internet mobilisiert, sagt eine 18-Jährige. Sie sehen auch Unterschiede zum Tschernobyl-Protest. „Damals wollte man gleich die ganze Gesellschaft ändern, jetzt geht es um die reale Bedrohung.“ Ihre Freundin ist empört über den Vorwurf, ihr Protest sei selbstbezogen und gefühlskalt gegenüber den Opfern in Japan. „Die AKW stehen doch hier.“

Wir wissen nicht, was wirklich in Fukushima passiert, sagen die Tschernobyl-Aktivisten; das sei wie damals, als das Misstrauen grenzenlos war. Den Angaben des Senats ist nicht zu trauen, sagten die Initiatoren einer unabhängigen Messstelle und sammelten Geld mit einem Konzert in der Waldbühne. Der angeblich unbedenkliche Grenzwert für Frischmilch von 500 Bequerel pro Liter empörte Eltern, weil damit Kleinkindern übers Jahr eine höhere Strahlendosis zugemutet wurde als der zulässige Grenzwert für die AKW-Mitarbeiter. Und in Wohngemeinschaften gehörte die Bequerel-Mathematik zum Frühstücksritual.

Auf den Stufen des Schöneberger Rathauses, damals Sitz des Regierenden Bürgermeisters, standen die Mütter und schütteten Milch aus Kannen. Protestgesten, geboren aus der Hilflosigkeit. Und immer wieder wurde auf dem Kurfürstendamm demonstriert; 4000 waren es, als Hebammen, Schwangere und junge Frauen zum Protest aufriefen. Mehr als 2000 Polizisten bot der Senat auf, weil der Alternativen Liste, der Vorgänger der Grünen, ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt unterstellt wurde. Der Zug blieb friedlich – so wie am Sonnabend: jetzt laufen nur zehn Polizisten, ohne Kampfmontur, dem Zug voraus. Renate Künast und der Europaabgeordnete Michael Cramer sind wieder dabei. Cramer trägt seinen Pullover mit der Anti-Atom-Sonne, den er 1980 strickte, weil dem damaligen Lehrer das Tragen eines Buttons verboten war.

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