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Berlin: Groupies im Tokio Hotel

Die Teenieband der Stunde dreht in Berlin ihr neues Video, hunderte kreischende Mädels sind dabei. Und ein paar reife Frauen

Erst am Ende dieses Tages wird man ermessen können, was Sebastian geleistet hat. Jetzt hilft er seiner Freundin beim Warten. Sie stehen etwas abseits des Trubels. Beide sind 16. Er hält sie im Arm.

Berlin, unweit des Alexanderplatzes, vor dem Kino Kosmos, zwölf Uhr am Mittag. Tokio Hotel, die Teenie-Band der Stunde, dreht am Nachmittag ihr Video zur Single „Der letzte Tag“, auf dem Dach des Gebäudes. Ein Mann vom Sicherheitsdienst sagt, er und die Kollegen seien auf einen mächtigen Fan-Andrang eingestellt worden. Die ersten Fans waren um halb acht da. Längst ist das alte Kino rundherum mit Absperrgittern abgeriegelt. Die Band lässt sich Zeit. Einmal heißt es, um zwei Uhr gehe es los, dann heißt es: um vier. Die Zeit vergeht, es ist heiß.

Als die Band kurz vor vier endlich erscheint, schwillt der Geräuschpegel mächtig an. Schlagzeug, Gitarre, Bass, der Gesang setzt ein, Bikini-Oberteile und Tops mit Spaghetti-Trägern fallen. Die Crew, die das Video dreht, scheint dennoch noch nicht so richtig zufrieden. Für den zweiten Versuch jedenfalls dirigiert sie die Kulisse in die Mitte des Platzes, sodass es vom Dach aus, wo die Kameramänner filmen, mit dem richtigen Bildausschnitt nach mehr aussieht. Gut 400 Fans sind laut Polizei zusammengekommen – nicht der Andrang, den der Security-Mann meinte. Verteilt auf ein zig Meter Länge sehen vierhundert Menschen nicht nach Masse aus. Die Pausen zwischen den Aufnahmen geraten recht lang. Zeit für ein paar Impressionen.

Aus einem Bus steigen zehn junge Damen, die beim Musiksender Viva einen Besuch hier gewonnen haben. Sie werden später hinter die Bühne dürfen. Aber das Aussteigen aus dem Bus müssen sie wiederholen. Der Kameramann will „mehr Emotion sehen“, wie er sagt. Als es die Mädchen auf Geheiß zum zweiten Mal versuchen, kreischen und quieken sie. „So muss das jetzt den ganzen Tag gehen“, sagt der Kameramann. Vorne an der Absperrung singt eine Gruppe weiblicher Fans im mittleren Teenager-Alter. „Bill ist die geilste Sau der Welt / Sau der Welt / Sau der We-he-helt.“ Bill ist der Sänger von Tokio Hotel, der Mädchenschwarm. Die Melodie zum Text kennt man sonst aus Fußballstadien. Die Sängerinnen fallen auf dem geräumigen Platz kaum auf, weil dort inzwischen hunderte Mädchen kreischen.

Lied, Pause, Lied, Pause. Zeit für ein paar Feststellungen. Erstens. Am Potsdamer Platz logieren derzeit die Rolling Stones, auch nicht gerade eine unbekannte Band. Dort steht niemand und kreischt. Der Security-Mann vorm Kino aber sagt: „Wenn die hier drehen würden, wäre hier Verkehrsstau.“ Zweitens, Tokio-Hotel- Fans sind fast immer weiblich. Aber, drittens, nicht alle Teenager. Ein paar reife Frauen haben sich geschickt als Mütter getarnt. Eine parkt ihren Sohn im Schatten und sagt, so lange werde es nicht dauern. „Kriegst später ein Eis.“ Viertens, Sebastian braucht kein Eis, er hat gerade erst Liebe bekommen. Seit vier Tagen ist er mit seiner Freundin zusammen. Er mag Nirvana, eine Rockband für Fortgeschrittene. Sie mag Tokio Hotel. Wenn man fragt, was er von der Gruppe hält, verzieht er das Gesicht, als habe man ihm eine tote Maus zum Frühstück vorgesetzt. Seine Freundin hat heute nur Augen für Bill. Wusste er. Ist trotzdem mitgekommen.

Marc Neller

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