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Berlin: Günther Gürsch (Geb. 1919)

Von der Liebe kann nun wirklich allein die Musik berichten.

Der Krieg war vorbei, und das Theater in Stendal eines der ersten Häuser, das wieder ein festes Ensemble beschäftigte. Gute Leute trafen sich hier, unter ihnen Günther Gürsch, angestellt als Korrepetitor und zweiter Kapellmeister. Die Kapellmeister-Haut, so stellte er bald fest, wollte ihm nicht richtig passen. Von dem, der sie trug, wurde autoritäres Auftreten erwartet. Günther Gürsch aber war die Friedfertigkeit selbst. Umso besser war er als Pianist.

Die Tänzerinnen des Hauses liebten es, mit ihm zu proben. Während andere die Stücke so gleichgültig vom Blatt herunterklimperten, wie man daheim den Abwasch erledigt, füllte Günther jeden Takt mit seiner ganzen Seele. Oft erfand er neue Schlenker hinzu. Aus seinem lustvollen Spiel schien vor allem eins zu sprechen: die schlichte Freude, am Leben zu sein.

Eine Freude, die er so kurz nach dem Krieg mit vielen teilte. Zum Beispiel mit der Tänzerin Anita. Mit großem Glück war sie dem Luftangriff auf Magdeburg entkommen. Zwei dankbare Überlebende waren sie: Die Tänzerin in ihrem notdürftig aus Vorhangstoff zurechtgeschneiderten Kostümchen und der Pianist, der statt Schuhen alte Gummigaloschen an den Füßen und im Rücken einen Granatsplitter trug.

Wo und unter welchen Umständen Günther Gürsch den Splitter abbekommen hat, weiß niemand genau zu sagen. Überhaupt ist es so, dass viele meinen, den groß gewachsenen Mann mit dem sanften, runden Gesicht gut gekannt zu haben, ohne viel über ihn zu wissen. Er offenbarte sich ja in seiner Musik. Was gab es darüber hinaus schon noch Nennenswertes mitzuteilen? Gügü, wie er gerne genannt wurde, war keiner, der an Stammtischen erschien oder lange an Kantinentischen klebte. Ohne Musikinstrumente fühlte er sich seiner Ausdrucksmittel beraubt und war ein freundlicher, aber sehr ruhiger Mensch.

Da mussten schon Journalisten kommen, diese Wort-Jünger, und einen Beitrag über ihn für Fachzeitschriften planen. Dass diesen armen Geschöpfen selbst mit dem großartigsten Konzert nur bedingt zu helfen war, sah er ein. Ihnen erzählte er, dass er als Sohn eines böhmischen Arztes in Halbstadt aufwuchs, einer Eisenbahner-Gegend. Das größte Glück seiner Kindertage war das Schranken-Leiern, das man ihm dann und wann gestattete. Im Musizieren erkannte er bald die Fortsetzung. Und so wollte er, der seit seinem siebten Lebensjahr Unterricht in Musiktheorie und neben dem Klavierspiel in verschiedenen anderen Instrumenten bekam, in Prag Musikwissenschaften studieren. Stattdessen landete er im Musikkorps der Wehrmacht, wurde gegen Ende des Krieges an die Front geschickt und geriet in amerikanische Gefangenschaft. Es blieb die Sehnsucht nach der heilen Welt der Eisenbahnen. „Ich besitze“, sagte er in einem Interview, „fast vollständig die nach dem Kriege erschienenen Kursbücher, doch leider komme ich fast gar nicht zu meinem kleinen Hobby.“

Von der Liebe erzählte Günther den Journalisten nicht. Von der Liebe kann nun wirklich allein die Musik berichten. Und so bat er eines Tages die Tänzerin Anita an das Klavier und spielte ihr einen stürmischen Walzer vor, den er ihr komponiert hatte. Sie planten, dass sie das Stück tanzen solle, die öffentliche Zelebrierung ihrer Verschmelzung, eine Art Hochzeit. Es kam nicht dazu. „Aber in meinem Kopf“, sagt Anita, „in meinem Kopf habe ich den Walzer wohl tausend Mal getanzt.“

Das Paar beschloss, nach Berlin zu gehen. Während Anita sich bald um den gemeinsamen Sohn kümmerte, spielte Günther in verschiedenen Tanzorchestern und begann nebenher als Arrangeur zu arbeiten. Die Meisel-Verlage, berühmte Kapellmeister, Orchester und Produzenten baten ihn um seine Hilfe. Günther verstand es, Kompositionen unterschiedlichsten Stils so elegant umzuschreiben, dass selbst mäßige Orchester mit ihnen auftrumpfen konnten. Vielleicht war dies sein größtes Talent: andere zum Leuchten zu bringen, damit durch sie das Wesentliche strahlen konnte, die Musik.

Urlaub, Kleidung, Feste, das waren Nebensächlichkeiten, mit denen er sich nur ungern beschäftigte. Selbst wenn Krankenhausaufenthalte nötig waren, trug er seine Partituren bei sich. Er brauchte die Musik, und die Musik brauchte ihn. Günther Gürsch schrieb an die 100 Arrangements im Jahr, darunter für die Komische Oper, Max Raabes Palastorchester, die Brass Band Berlin und das Capital Dance Orchestra, er spielte für das Rias-, das SFB- und andere Orchester, saß in den Aufnahmestudios zahlreicher Schallplatten- und Filmfirmen.

Zu seiner Beerdigung ließ Anita den Walzer abspielen, den er ihr einst in Stendal schrieb. Es ist eine kleine, rauschende Aufnahme, eine Botschaft aus weiter Ferne, die Botschaft eines Liebenden. Anne Jelena Schulte

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