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Mit dieser Skulptur wird an der Straße zum Gutshof an Jutta Baumwol erinnert.

© Claudia Seiring

Hachschara-Lager in Neuendorf im Sande: Ein Gedenkort, der an erfüllte und zerstobene Träume erinnert

Von einem Gutshof aus betrieben junge Juden ihre Auswanderung aus Nazi-Deutschland. Dort bringt ein Verein nun viele Gesprächspartner zusammen.

Selbst als Zwangsarbeiter behielt er seinen Humor: Er sei wohl der einzige Jude gewesen, der Nazis unter die Erde bringen konnte, mutmaßte Hans Rosenthal. Da hatte er gerade auf dem städtischen Friedhof von Fürstenwalde (Brandenburg) das Doppelgrab für zwei SS-Männer ausgehoben, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren. Der spätere Showmaster und Moderator ging auf Nummer sicher: „Ich habe die Gräber 20 Zentimeter tiefer gemacht als üblich. Man weiß ja nie.“

Die Geschichte, die sich vor fast 80 Jahren zugetragen hat, liest Gert Rosenthal an diesem Septembernachmittag aus der Autobiographie seines Vaters. Er liest sie auf dem Gutshof Neuendorf im Sande – dem Ort, an dem Hans Rosenthal ab Sommer 1941 als Zwangsarbeiter untergebracht war und von wo aus er seinen Dienst als Totengräber antrat. Gert Rosenthal ist am Sonnabend einer der Podiumsgäste beim „1. Dorfgespräch“, zu dem der Verein „Geschichte hat Zukunft“ eingeladen hat.

Gert Rosenthal, 1958 geborener Sohn von Hans Rosenthal, war am Sonnabend in Neuendorf im Sande zu Gast.
Gert Rosenthal, 1958 geborener Sohn von Hans Rosenthal, war am Sonnabend in Neuendorf im Sande zu Gast.

© Claudia Seiring

Vor knapp einem Jahr ist dem Projekt „ZuSaNe e.V.“ ein kleines Wunder gelungen: Im Oktober 2018 konnte es das Landgut von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BimA) erwerben. Unterstützt wurde der Kauf von der Stiftung trias und der Stiftung Edith Maryon. Damit „die bedeutende Vergangenheit des Landwerks nicht in Vergessenheit gerät“ – eine Bedingung des Kaufs – , gründete sich im Dezember 2018 außerdem der Verein „Geschichte hat Zukunft – Neuendorf im Sande e.V.“. Diese Geschichte beginnt neun Jahre vor der Zeit als Zwangsarbeiterlager, zu dem es die Nationalsozialisten 1941 umwandelten. 1932 wurde das „Landwerk Neuendorf“ gegründet, eine jüdische Arbeiterkolonie und Ausbildungsstätte. 20 solcher sogenannter Hachschara-Lager gab es in dieser Zeit allein in Brandenburg, berichtet Harald Lordick, Mitarbeiter am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte in Essen. Er führt die Besucher am Sonnabend über den Gutshof. Wie eine Schablone legt sich mithilfe seiner Worte und der Fotos auf seinem Tablet die Vergangenheit über die Gegenwart. Hier, vor dem Haupthaus, das zwei Mal abgebrannt ist und nichts mehr von seiner einstigen Schönheit zeigt, lässt er die elegante Außentreppe wiedererstehen und eine Ahnung davon, wie es sich damals hier lebte.

Von hier aus sollte das neue Leben beginnen

Anfangs gab es 30 bis 40 Auszubildende hier, junge Juden, die sich auf ihre Auswanderung vorbereiten. Die meisten wollten nach Palästina, manche nach Argentinien. Sie mussten dafür Erfahrungen in der Landwirtschaft, der Viehhaltung, im Handwerk und in der Hauswirtschaft vorweisen. „Eine geeignete, handwerkliche Berufsausbildung galt dafür als entscheidendes Kriterium“, sagt Lordick. „Das war die Station für den Nullpunkt“, sagt er über Neuendorf. Von hier aus sollte das neue Leben beginnen. Weil Auswanderung für viele junge Juden nach der Machtübernahme der Nazis der einzige Ausweg schien, wuchs die Zahl der Mitglieder der Hachschara-Bewegung kontinuierlich. Die Nationalsozialisten duldeten die Auswandererbewegung trotz aller antijüdischer Restriktionen zunächst. Der Weg über das Gelände führt vom Haupthaus an Baracken und Ställen vorbei. Neuendorf im Sande ist ein historisches Kleinod, weil originale Gebäudeteile erhalten sind. Wie es sich dort lebte, ist eine der Fragen, denen der Verein nachgeht. Weltweit sucht er nach Angehörigen von Menschen, die in Neuendorf gelebt und gearbeitet haben. Und nach Dokumenten, die das Leben dort beschreiben. So hat zum Beispiel die Montessori-Pädagogin Clara Grunwald, die 1943 vom Gutshof mit einer letzten großen Gruppe ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde, in Briefen das Leben in den Baracken Neuendorfs beschrieben.

Die Arbeit war hart, die Zukunft unsicher

„Um 3.30 Uhr ging die Arbeit im Pferdestall los“, sagt Harald Lordick. Um das vier mal sieben Kilometer große Gelände zu bewirtschaften, mussten die Auszubildenden hart arbeiten. Der Wissenschaftler führt die Gruppe zum Abschluss der Runde an das frühere Gartengelände: Zwei große Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen dort – wie an vielen anderen Stellen des Geländes – Szenen aus dem Hachschara-Lager. Zu sehen sind ein junger Mann und eine junge Frau bei der Gartenarbeit. Er blickt zu ihr, sie konzentriert auf den Boden, beide sehen sehr ernst aus. Was ist aus ihnen geworden?
Vielleicht tausend Menschen konnten sich aus Neuendorf im Sande vor Verhaftung, Deportation und Vernichtung retten. Für viele andere war es eine Zwischenstation auf dem Weg in den Tod. Die 1925 geborene Jutta Baumwol hatte sich schon früh einem zionistischen Jugendverband angeschlossen und ging nach Schniebinchen in ein polnisches Hachschara-Lager. Während es ihre Familie nach langer Odyssee bis nach Haifa schaffte, wurde Jutta erst als Zwangsarbeiterin nach Neuendorf geschickt und von dort am 8. April 1943 nach Auschwitz deportiert. In einem letzten Brief schreibt sie ihrer Familie: „Ich fahre zu Oma. Seid stark, ich bin es auch.“ Ihre Großmutter war schon lange gestorben, die Familie wusste also, dass sie Jutta nicht wiedersehen würde, erzählt ihr Bruder Itzhak.

Miteinander ins Gespräch kommen

Als der Neuendorfer Geschichtsverein mit ihm Kontakt aufnahm, war der 89-Jährige sofort bereit, über seine Schwester zu berichten und dabei zu helfen, ihr Schicksal zu dokumentieren. Dafür reiste er von Israel nach Neuendorf. Und er sorgte dafür, dass in der Einfahrt zum Gutshof die lebensgroße Silhouette einer jungen Frau an Jutta und all die anderen Jugendlichen erinnert.

Einladung zum Gespräch: Wer wollte, konnte dabei sein.
Einladung zum Gespräch: Wer wollte, konnte dabei sein.

© Claudia Seiring

„Das Dorfgespräch war für uns ein Auftakt“, sagt Tanja Tricarico vom Verein „Geschichte hat Zukunft“. Die Bewohner des Gutshofes – Alteingesessene wie Zugezogene – sollten miteinander ins Gespräch kommen. Außerdem sei der Verein immer auf der Suche nach Zeitzeugen. Und wie viel Aktualität steckt in der Geschichte Neuendorfs? „Heute ist alles ganz anders, oder?“, lautet der entsprechende Titel einer Diskussionsrunde am Abend, an der Sozialarbeiter, politisch Engagierte und eine Geflüchtete über Ausgrenzung, Toleranz, Verfolgung und den Verlust von Heimat sprechen. Es ist wie ein Spiegel der Geschichte des Ortes, als die 24-jährige Leylan das Wort ergreift. 2011 flüchtete sie mit ihren Eltern und den drei Geschwistern aus Syrien und lebt seit einigen Jahren in Fürstenwalde. Sie hat ihr Abitur gemacht und studiert nun Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsmathematik an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. „Ich möchte hierbleiben können“, sagte sie auf die Frage nach ihren Wünschen. „Ich möchte in diesem Land leben und arbeiten.“

www.geschichte-hat-zukunft.org

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