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Härtetest nach der Berlin-Wahl: Wie viel Öffentlichkeit vertragen die Piraten?

Transparenz ist oberstes Gebot der Piratenpartei, aber da fangen die Probleme an: Darf nichts hinter verschlossenen Türen bleiben, kein Streit, kein Schachern um Posten?

Man kann viele Parallelen finden zwischen den Bildern, die die Piraten in dieser Woche produzieren, und denen, die so sattsam bekannt sind aus den Anfängen der Grünen. Da ist das Bild von der bunten Chaostruppe, die ins Parlament einzieht, nur dass die diesmal keine Aufblas-Weltkugeln und Krüppeltannen mit sich führt, sondern MacBooks und Piratenkopftücher. Da ist das Bild von der heillos zerstrittenen Bande, die sich öffentlich die Köpfe heiß redet. Und da ist auch dieses Bild des einen, der anders ist als die anderen um ihn her.

Es gibt dieses Bild von Joschka Fischer, noch aus der Zeit vor den Grünen, aus der Frankfurter Hausbesetzerszene: das Bild desjenigen, der als Einziger eines Auditoriums von Spontis nicht auf ein heute vergessenes Podium blickt, sondern mit verschränkten Armen seitlich in die Kamera, wie Narziss in das spiegelnde Wasser. Und es gibt ein ähnliches Bild seit Montag auch von Christopher Lauer: Als Mitglieder der Fraktion am Montag zum ersten Mal vor dem Abgeordnetenhaus für die Kameras posieren, stehen sie lässig beieinander, in Kapuzenpullovern und Shirts, einer von ihnen im Blaumann und mit Kopftuch. Doch Lauer, in der ersten Reihe, in Hemd und Jackett, steht steif, das Kinn nach oben, die Arme fest verschränkt. „Nehmen Sie doch mal die Hände auseinander“, ruft ein Fotograf. „Ich verschränke jetzt die Arme“, sagt Lauer, und wiederholt es: „Ich verschränke jetzt die Arme.“

Er ist jener Pirat, dem seine Partei die Eitelkeit nicht nachsehen will, dessen Charisma und Intellektualität sie aber braucht, weshalb sie ihn – vermeintlich aussichtslos – auf Platz zehn der Landesliste parkte. Lauer kann so kontrolliert nonkonformistisch sein und so rampensäuisch, dass man die weitere Geschichte schon vor sich zu sehen glaubt: diese Geschichte von Etablierung und Professionalisierung, von der Zuspitzung des Kollektivs auf einzelne Leitwölfe wie Lauer, der wie kein anderer bereits jetzt staatstragend von Verantwortung reden kann – von den Wählern, denen man nun verpflichtet sei. Und natürlich allen anderen.

Man kann indes nur vermuten, dass die Wähler der Piraten – anders als der Pirat Lauer – durchaus Verständnis dafür haben werden, dass ihr Votum zunächst keine staatstragende Fraktion hervorgebracht hat. Was am Montagabend nach der großen Pressekonferenz passiert, scheint auf den ersten Blick zum normalen Wachsen und Werden einer jungen Partei dazuzugehören: Die Geschäftsstelle an der Pflugstraße in Mitte ist voll, 30 Piraten sind gekommen, und sie wissen noch nicht damit umzugehen, dass plötzlich ein Heer von Journalisten durch die Tür stürmt. Also diskutieren die Piraten, als wären sie unter sich, und liefern den Journalisten, worüber die immer gerne schreiben: Streit. Es geht um Transparenz, den einen Begriff, der über allem steht, was die Piraten tun, und plötzlich zeigt sich, dass die Piraten sich überhaupt nicht einig sind, was genau Transparenz eigentlich ist und wie weit sie gehen soll.

Lesen Sie auf Seite 2: Offenheit und Bürgernähe, kann das im Alltag klappen?

„Geschäftsordnungen, die den Ausschluss der Öffentlichkeit vorsehen, lehnen wir ab.“ Obwohl das im Wahlprogramm steht, wollen einige, dass die Türen geschlossen bleiben, wenn die Fraktion zum ersten Mal tagt. „Ich werde nicht die nächsten fünf Jahre mit einem Aufnahmegerät durch die Gegend laufen“, sagen die einen. „Wovor haben wir denn Angst?“, fragen die anderen. Einer der künftigen Abgeordneten, Gerwald Claus-Brunner, hat inzwischen angekündigt, notfalls zu einem Whistleblower zu werden, zu jemandem also, der Geheimgehaltenes verrät. Manche wollen einen Kompromiss, man könne doch die Sitzung erst einmal aufzeichnen und später eine zensierte Version ins Netz stellen. Die Wortwahl ist nicht ernst gemeint, schließlich kämpfen die Piraten gegen Zensur. Die Idee aber ist es, und damit steht die Frage im Raum, ob auch Hässliches in die Öffentlichkeit gehört, Kämpfe um Posten und Streit, der zwar politisch ist, aber auch persönlich geführt wird.

Ein Anfängerfehler? Wohl nicht. Dass das, was zunächst ein solcher zu sein scheint, auf den zweiten Blick eine entscheidende Schwäche in der Konstruktion der Partei ist, zeigt sich im Verlauf der Woche immer deutlicher. Als sich die Mitglieder des Landesverbandes am Dienstagabend zum Stammtisch im „Kinski“ in der Neuköllner Friedelstraße treffen und dort ohne Agenda schlicht und einfach beisammen sein wollen, wird die schwierige Situation, in die sie der Wahlsieg gebracht hat, erst wirklich deutlich. Während die Parteigranden wie Lauer oder Spitzenkandidat Andreas Baum zum Teil selbst keinen Fuß mehr in die Tür des schmalen Lokals bekommen, filmen Fernsehteams von ARD, ZDF, Deutscher Welle und russischem Staatsfernsehen dort alles, was sich bewegt. Ein bärtiger Exzentriker gehobenen Alters mit Rock und Strumpfhose bläst Seifenblasen durch den Raum. „Den hat hier bis heute noch keiner gesehen“, sagt Pressesprecher Philipp Brechler. Doch ab jetzt gehört auch der Alte zur Ikonografie des Phänomens, dessen eigentliche Protagonisten dagegen nichts sagen dürfen, ist das doch – neben der Transparenz – ihr Markenkern: Offenheit, Bürgernähe, und dass jeder mitmachen kann.

Und so wird der Satz „Die Grünen haben auch mal so angefangen“, der an diesem Abend unzählige Male von Mitgliedern und Freunden der Partei in die Kameras gesagt wird, mit jedem Mal, da er fällt, unwahrer. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich hier eben nicht eine Partei mit einem neuen Thema der Weltöffentlichkeit zeigt. Vielmehr tritt sie – weil dieses Thema so viel mit dieser Öffentlichkeit zu tun hat – sofort in ein weitergehendes Experiment ein. Was sich am Dienstagabend in der Friedelstraße abspielt, ist das Aushandeln jener neuen Form von Öffentlichkeit, die die Piraten im Netz zuvor vor allem mit sich selbst kommuniziert haben, unter Echtzeitbedingungen. Der Härtetest für den Markenkern „Transparenz“, der bereits am Vorabend begonnen hat, zeitigt hier erstmals Formen von Betroffenheit: Die Berichterstattung über diesen Vorabend, die eine streitlustige, basisdemokratische Partei – so ist das Selbstbild – mit dem vermeintlichen Zerrbild einer sich zerstreitenden und letztlich doch postengeilen Truppe kurzschloss, hat viele nachdenklich gemacht.

Lesen Sie auf Seite 3: Folgen die Piraten dem Weg einer sich etablierenden Partei - auf den Spuren der Grünen?

„Das wird für einige ein Lernprozess“, sagt Christopher Lauer. Die Frage ist nur: Wo führt der hin? Bringt er die Piraten auf den Weg einer sich etablierenden Partei? Führt er Lauer auf die Spuren Fischers? Nein, zu unterschiedlich scheinen dafür eine Ökologie, von der man reden kann, und eine Transparenz, die man auch dann noch vorleben muss, wenn sie gerade an sich selbst scheitert. Die Protagonisten müssen immer wieder die Mechanismen der eigenen Offenheit erklären. Sie müssen als Apostel für Prinzipien funktionieren, von denen sie selbst, wie manche hinter vorgehaltener Hand sagen, gar nicht wissen, ob sie die gesteigerte Intensität der Beobachtung und des Zuspruchs nach der Wahl aushalten.

Während im „Kinski“ Piraten Möglichkeiten der Partizipation und Dokumentation erläutern, fragen sich draußen andere, wie genau man die gerade in Bezug auf die Abgeordnetenhausfraktion unterlaufen könnte. Wie man sicherstellen kann, dass die auch mal in Ruhe zu sich selbst findet, wie sie sich absprechen, auch streiten kann, ohne dabei von Dritten als politische Daily Soap verbraten zu werden. Ob die erste Fraktionssitzung am heutigen Abend öffentlich oder nicht-öffentlich sein wird, steht auch zu diesem Zeitpunkt noch in den Sternen über Neukölln.

Lauer schüttelt nur genervt den Kopf, wenn die Rede auf die kommt, die Transparenz ohne Kompromisse wollen. Er ist der Realo, das hat er bereits am Montag deutlich gemacht. Aber was bedeutet „Realo sein“ dort, wo die gemäßigte Haltung nicht die Wahl der Mittel betrifft, mit denen man – eben mehr oder weniger radikal – einen bestimmten Zweck verfolgt? Sondern das, worum es geht? Um das Transparentmachen politischer Prozesse, seien sie parteiintern oder im Parlament?

Für Lauer bedeutet es wohl zunächst einmal, dass er mit seinen Ansichten und seiner Attitüde keine Chance auf den Fraktionsvorsitz haben wird. Für die Piraten bedeutet die Tatsache, dass Selbstschutz und Selbstaufgabe für sie so denkbar nah beieinander liegen, ein schwerwiegendes Problem, dem sie zumindest beim Stammtisch in der Friedelstraße entkommen können: Wer hier ein vertrauliches Gespräch führen will, geht einfach ein Stück den Bürgersteig entlang, außer Hörweite der anderen und der Presse. Es sind an diesem Abend doch ein paar, die diesen Weg wählen.

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