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Berlin: Hans-Joachim Schulz (Geb. 1934)

„Du kriegst keine Geschenke. Wenn überhaupt, dann bekommst du sie!“

Der „Sport-Club Tasmania von 1900 Berlin“ hält knapp 40 Jahre nach seinem Untergang noch zahlreiche Bundesligarekorde: Letzter Platz in der Ewigen Bundesligatabelle, schlechteste Saisonbilanz, die wenigsten Bundesliga-Tore, die meisten Niederlagen, längste Niederlagenserie, höchste Heimniederlage (0 : 9 gegen MSV Duisburg am 26. März 1966), Bundesligaspiel mit den wenigsten Zuschauern (827). Die Liste ließe sich fortsetzen, doch ein wahrer Fan bleibt von übellauniger Statistikhuberei unbeeindruckt. Hans-Joachim Schulz, Rufname Hanne, ging mit seinen Neuköllner Fußballern durch dick und dünn. Wenn sein Sohn statt zu Tasmania zu Hertha gehen wollte, wurde das Taschengeld auf null gesetzt. Hanne war ein strenger Vater mit klaren Grundsätzen. Beim Fußball und auch sonst waren Fleiß, Disziplin, Ehrlichkeit und Treue höchste Tugenden, auf dem Platz wie auf den Rängen.

Doch der Fußball versagte. Im Sommer 1971 wurde bekannt, dass Bundesligaspiele manipuliert worden waren. Dutzende Spieler hatten sich bestechen lassen, darunter 15 von Hertha BSC. Hanne kündigte seinen lebenslangen Bund mit dem Fußballsport. Zwei Jahre später ging der SC Tansmania pleite.

Das war insofern tragisch, als sich das Zuschauen im Tansmania-Stadion an der Neuköllner Oderstraße so wunderbar mit dem Begrüßen der einfliegenden Passagiermaschinen auf dem Flughafen Tempelhof verbinden ließ. Über den Köpfen des Vater-Sohn-Gespannes schwebten die propellerbetriebenen Blechkisten zur zwei Straßen entfernten Landebahn.

Fußball und Fliegerei, zwei artverwandte Beschäftigungen zur Sublimierung des männlichen Jagdtriebes. Eines Tages nahm Hanne seinen Sohn zur Seite, sagte: „Heute wirste Bauklötze staunen“, und dann ging es zum Flughafen, hinein in eine Blechkiste, die über die DDR hinweg Hannover erreichen sollte. Über die DDR hinwegzusetzen, war Hanne wichtig. Dieses Land hatte sich selbst ins Abseits gestellt, ähnlich wie Hertha BSC. Erst die Sozialdemokratie an die Kommunisten verraten, dann die marschierende Arbeiterklasse an die Rote Armee. Und dann noch eine Mauer durch Berlin! Hanne hatte als Schriftsetzerlehrling in München gelernt, wie man die Freiheit des Einzelnen mit den Kollektivrechten der Arbeiterklasse über einen Kamm schert: Mit der SPD. Herbert Wehner gehörte zu seinen Vorbildern, Helmut Schmidt oder einer wie Holger Börner aus Hessen. Börner hatte mal durchblicken lassen, dass er gegen Startbahn-West-Demonstranten am liebsten mit einer Dachlatte vorgehen würde. Ähnlich war Hannes Verhältnis zu den „Chaoten“ seiner Heimatstadt, die gegen den Schah von Persien demonstrierten oder später regelmäßig Kreuzberg anzündeten.

Hanne arbeitete zunächst beim „Telegraf“ und wechselte dann zur Mercator-Druckerei, die zum „Tagesspiegel“- Verlag gehörte. Die Drucker streikten immer mal für höhere Löhne, ein legitimes Aufbegehren der Arbeiterklasse, dachte Hanne und streikte mit. Als dann Studenten angeheuert wurden, um einen Streik zu brechen, gab es Tumulte, und das Ansehen der Dutschke-Jünger aus den besetzten Häusern sank bei Hanne weiter in den Keller. Die politischen Verhältnisse und was man von ihnen zu halten habe, erläuterte er seinem pubertierenden Sohn nach der Spätschicht. Dann legte er gerne „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens auf, die Heimwehhymne des still leidenden Gastarbeiters. Hanne war viel daran gelegen, dass seine Kinder nicht die Schulhofsprüche gegen Ausländer nachplappern.

Vaters Beruf brachte es mit sich, dass im Hause Schulz sehr auf Rechtschreibung und Schreibstil geachtet wurde. „Vati, wann krieg ich meine Geschenke?“ – „Du kriegst keine Geschenke. Wenn überhaupt, dann bekommst du sie!“

Wenn die Tochter ihrer Freundin einen Brief schicken wollte, sah Vater das Schreiben zuvor durch, und fand sich ein Fehler, wurde der Brief noch mal abgeschrieben. Auch in Natur- und Heimatkunde kannte sich Hanne zum Leidwesen seiner Kinder sehr gut aus. „Wie heißt dieser Baum?“ – Ratloses Schweigen – „Das ist eine Pappel, mein Junge. Merk dir das!“

Im Urlaub ging es meistens zum Wandern in die Alpen. Da galt es, die Höhenzüge und Flusstäler zu identifizieren.

Das Leben erwies sich für Hanne als ein gemächlich fließender Strom. Die Nachkriegsentbehrungen waren dank eines krisensicheren Handwerks bald überwunden. Als dann doch die Krise kam, akzeptierte Hanne frohen Herzens den goldenen Handschlag zum Vorruhestand und widmete sich noch intensiver dem Gemüse- und Obstanbau im Schrebergarten. Als die Mauer noch stand, radelte er an Sonntagen morgens um sechs die Grenze entlang, um Pferdeäpfel aufzusammeln. Auch die häuslichen Essensreste beförderte er am Lenker seines Fahrrades auf seinen privaten Komposthaufen.

Das Erkunden der Stadt und ihrer Peripherie war ihm ein Bedürfnis. Jede Bus- und Bahnlinie im Umkreis von 100 Kilometern probierte er aus. Am liebsten mit seinen Enkelkindern. Aus dem strengen Vater war ein milder Opa geworden.

Als die Abberufung nahte – eine Krebserkrankung – sah Hanne keinen Grund, sich kämpferisch dem Schicksal entgegenzustellen. Hatte doch alles gehabt, wofür man auf der Welt ist. Um seine Frau, die zurückbleiben würde, tat es ihm dann aber doch leid. Thomas Loy

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