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Berlin: Hans-Jürgen Werner (Geb. 1950)

Eine kleine Insel, die täglich mehr im Meer versinkt

Ein Foto aus den Achtzigern zeigt ihn auf einer Fahrradtour durch Frankreich. Die Haare kurz, das Hemd weit offen, sportlich, braun gebrannt, mit gestutztem Vollbart und einem imposanten, fransig wucherndem Schnauzer. Ein sympathischer, lässiger Typ, dem man die strenge katholische Herkunft nicht ansah.

Von Paderborn war er direkt nach dem Studium in den Wedding gezogen. Er wollte Schule anders machen, mehr Demokratie wagen. Im Modell der Gesamtschule sah er eine Chance für die Chancengleichheit. Weil jemand in einem Fach schwächelt, bedeutet das nicht, dass er ein schwacher Schüler ist. Seine Kollegen schätzten ihn, weil er ein besonnener, strukturiert denkender Pädagoge war, der half und unterstützte und schließlich zum Konrektor und Fachbereichsleiter für Mathematik aufstieg. Umso erstaunter waren sie, als er seine Stundenzahl reduzierte und immer häufiger unkonzentriert wirkte.

Eine Kollegin wunderte sich, dass er auf einer Konferenz mehrmals hintereinander die gleiche Frage stellte. Ein anderes Mal stutzten seine Schüler. Er begann, an der Tafel eine Gleichung aufzulösen und wusste mit einem Mal nicht weiter. Wie bei einem Blackout verstand er die Zeichen und Operatoren nicht mehr. Verlegen brach er den Unterricht ab.

In der Charité unterzog er sich kognitiven Tests. Sein Kurzzeitgedächtnis wurde gecheckt, man ließ ihn Ziffernblätter lesen. Anschließend teilte man ihm ein Ergebnis mit: „Sie haben Alzheimer.“

Er war 54 Jahre alt und fühlte sich nicht wie ein künftiger Pflegefall. Aber von nun an tickte die Uhr. Auf seinem Balkon im vierten Stock, zwischen hohen schlanken Sonnenblumen und zwei großgezogenen Bäumen, überlegte er, ob er sich hinunterstürzen sollte.

Was bleibt, wenn von einem nichts mehr bleibt?

Man riet ihm zur Bewegung, den Job als Lehrer musste er aufgeben. Täglich ging er schwimmen und fuhr unendlich viel Rad. Um sich ein genaues Bild von dem zu machen, was für ihn bald unbegreifliche Praxis sein würde, recherchierte er akribisch im Internet. Und hoffte, dass ein Wundermittel gefunden wird. Doch bei Alzheimer stirbt die Hoffnung lange vor dem Patienten. Eine kleine Insel, die täglich mehr im Meer versinkt.

Die Krankheit veränderte sein Wesen. Er, der auf jeder Friedensdemo vorweggegangen war, wurde ängstlich, beinahe verzagt. Immer öfter blieb er zu Hause und versank in sich selbst. „Nesteln“ nannte er das. Fahrrad fuhr er im quirligen ersten Gang und mit tief gestelltem Sattel. Weil er so gar nicht ins Klischee des greisen Alzheimerpatienten fiel, wurde das Fernsehen auf ihn aufmerksam, filmte ihn beim Schwimmen im Hotelpool. Lange kokettierte er mit seiner Erkrankung und hielt an seiner Unabhängigkeit fest, aber schließlich musste er sich doch helfen lassen.

Mit 60 zog er ins Altenheim. Dort besaß er sein eigenes Zimmer und ein paar persönliche Möbelstücke. Anfangs spielte er noch den jungen Hahn im Korb. Doch bald wurde ihm das zu viel.

In die entlegensten Winkel der Welt war er gereist, meist zusammen mit zwei guten Freundinnen. Nun suchten nur noch die engsten Vertrauten sein kleines Zimmer in der Pflegestation auf. Ein Ort mitten in der Stadt, mit Menschen, die niemand mehr zu Gesicht bekommt, ausgenommen das Pflegepersonal und die wenigen, die noch zu Besuch kommen.

Die Freundinnen brachten Eis mit und schauten sich gemeinsam mit ihm alte Urlaubsfotos an, auf denen er sich schon nicht mehr erkannte. Als er nur noch liegen konnte, weil die Muskeln keine Signale mehr empfingen, bemerkten sie, dass er seinen Nachlass nicht geregelt hatte.

In Lourdes und in Fatima hatte er früher augenzwinkernd geweihte Wässerchen und andere Devotionalien gekauft und in den Kirchen Kerzen für die Verstorbenen angezündet. In langer Reihe zogen nun die Bilder auf und ab, ohne einen inneren Zusammenhang zu stiften.

Erkannt hat er seine Freundinnen nicht mehr, vielleicht spürte er ihre Nähe. Sein Herz schlug, so lange es konnte.

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